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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Kopf an meine Brust und hielt sie fest. Es dauerte eine Ewigkeit, bis das Schluchzen nachließ. Ich strich ihr immer wieder über den Kopf und konnte es nicht fassen, dass sie in meinen Armen lag und ich den Duft ihrer Haare riechen konnte.
    »Seit wann benutzt du Issey Miyake?« Sie schob mich zurück. Ihr Gesicht war tränenverschmiert. »Das ist das Frauenparfum. Also, wer ist es? Deine Anwältin?«
    Sie kam wieder auf die Beine. Ich hob mein T-Shirt und
schnupperte daran. Ein hauchzarter Duft nach Marietta. Nie wäre er mir aufgefallen. Aber sie hatte es sofort gerochen.
    »Sigrun«, begann ich, doch sie schnitt mir das Wort mit einer Handbewegung ab.
    »Wir gehen zu ihm. Jetzt gleich.«
    »Zu Utz?«
    Sie nickte. »Ich hätte ihn schon viel früher fragen müssen. Aber tief in uns drin bleiben wir das Leben lang Kinder. Kleine Jungen, kleine Mädchen. Und was wäre für diese kleinen Kinder schlimmer, als an ihren Eltern zu zweifeln? Wir stellen ihnen keine Fragen, weil wir die Antworten fürchten.«
    Sie ging ans Fenster und schaute hinunter in den fast dunklen Garten. Wir schwiegen. Sie hatte Recht: Es gab Fragen, die man seinen Eltern nicht stellte. Hast du meine Mutter jemals geliebt? Hast du schon einmal getötet? Würdest du sterben für mich?
    »Deinen Vater trifft keine Schuld.«
    »Dann müssen wir erst recht mit ihm reden. Er kennt seine Mutter länger als ich.« Sie ging zur Tür.
    Ich lief hinter ihr her und hielt sie am Arm fest. Ich wollte ihr sagen, dass es schon für mich allein reichlich gefährlich war und sie vorsichtig sein sollte. Dass ich ihren Verrat nie vergessen würde, aber dass ich verzeihen könnte. Dass ich mir wünschte, wir könnten die Zeit zurückdrehen und noch einmal dort weitermachen, wo wir uns verloren hatten. Ich sah ihr in die Augen und erkannte, dass sie alles in mir las und dass es zu spät war.
    Sigrun löschte das Licht. Durch Georgs Büro gingen wir hinaus auf den Flur, und ich schloss ab. Dann stiegen wir die Treppe hinauf, ein Stockwerk höher. In den Zernikow’schen Privatflügel der Villa.

39
    Das Zimmer war anders eingerichtet als die anderen im Haus. Die Fenster waren mit dunklen, schweren Samtgardinen verhängt. Moosgrüne Tapeten, dunkelrote Teppiche. Schwere Eichenmöbel gaben dem Raum eine gravitätische Strenge. Das einzige Licht kam von einer kleinen Messinglampe, die auf dem Lesetisch neben einem Sessel stand. Sie malte einen scharf umrissenen Lichtkreis und tauchte den Rest des Zimmers in das Halbdunkel verschwimmender Schatten.
    In dem Sessel saß Utz. Auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Er schlief.
    »Willst du ihn wecken?«, flüsterte ich. Sigrun nickte.
    Wir traten leise auf den alten Mann zu. Er trug zwar Hemd und Hose, darüber aber einen karierten Kaschmirhausmantel. Die Brille hielt er noch in seinen Händen. Sigrun nahm sie ihm vorsichtig ab, ebenso das Buch, und legte beides auf den Lampentisch neben ihm.
    »Papa?«
    Utz blinzelte. Er lächelte müde. Doch dann sah er die Tränenspuren in ihrem Gesicht. Im nächsten Moment erkannte er mich. Noch halb vom Schlaf benommen, nahm er sofort eine kerzengerade Haltung an.
    »Guten Abend«, sagte ich. »Entschuldige die späte Störung.«
    Utz räusperte sich und fuhr sich mehrmals durch die Haare. Es tat mir leid, den alten Mann so zu sehen. Doch er fasste sich erstaunlich schnell. »Es muss ein wichtiger Grund sein, wenn Sigrun dich noch einmal in unser Haus gelassen hat.«
    Wir setzten uns in zwei niedrige Ledersessel ihm gegenüber.
    Utz schloss den oberen Knopf seines Hemdes. »Ich höre.«
    Sigrun sah mich an. Ihre Hand tastete herüber zu mir, ich griff nach ihr und hielt sie fest.

    »Ich will wissen … Wir wollen wissen, was sich damals im November 1944 zugetragen hat.«
    »Ach so.« Utz lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen. »Das also.«
    Sigrun beugte sich vor und berührte ihn sanft am Knie. Er zog es unwillig weg.
    »Warum?«, fragte er und blinzelte sie an.
    Ich drückte ihre Hand.
    »Weil es wichtig ist. Ich möchte wissen, was sich in unserer Familie zugetragen hat. Nicht nur die Heldensagen. Auch das andere. Das Böse. Das, was schwer zu ertragen ist und deshalb so lange verschwiegen wurde. Ich bin ein Teil dieser Familie, ich habe ein Recht auf die Wahrheit.«
    Utz schnaubte unwillig. Sigrun wurde unwillkürlich ein Stückchen kleiner. Vor meinen Augen verwandelte sich eine erwachsene Frau, Stellvertretende Bürgermeisterin der Hauptstadt dieses Landes und

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