Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Schatzkästchen. Mit Ringen, Ketten, Münzen, Goldschmuck und einem kleinen goldenen Kreuz. Ich wusste sofort, dass Natalja dieses Geschenk annehmen würde. Sonst nichts. Ich wollte nicht, dass sie wegging, wenn dieser Krieg vorbei war. Also habe ich das Kreuz genommen und ihr geschenkt. Als sie nach Grünau kam, haben die Lehnsfelds es entdeckt. Heute weiß ich, dass alle deshalb dachten, Natalja wüsste Bescheid über das einträgliche Geschäft, das sie in ihren Kellern betrieben. Sie haben Angst bekommen. Natalja wurde angezeigt. Und sie tat etwas, das ich bis heute nicht begreife: Sie schwieg. Sie hat niemandem verraten, von wem sie das Kreuz hatte. Damit hat sie ihr Todesurteil unterschrieben. Die Gestapo kam ins Haus. Ich wurde verhört. Das allein hat schon gereicht, um vor Zähneklappern den Mund nicht mehr aufzukriegen. Natalja hatten sie schon abgeholt. Also habe ich nichts gesagt. Ich wusste damals nicht, dass auch das Stillsein Konsequenzen hat. Für mich gab es lebenslänglich. Die Schuld ist der finsterste Kerker, den man sich selber graben kann.«
Niemand sagte etwas. Eine lähmende Müdigkeit breitete sich aus über uns, die Luft wurde immer dicker, und irgendwann würde sie uns sanft ersticken, wenn nicht bald Hilfe kam.
Schließlich war der Schein der Lampe nur noch ein winziger glühender Faden in der Birne. Ich sah ihm zu, wie er langsam erlosch, und mir kam der Gedanke, dass dieses Verlöschen das Letzte war, was ich sehen würde. Marie-Luise hieb ab und an mit dem Brecheisen auf die Mauer ein, bis ich ihr sagte, sie solle sich und unsere Atemluft schonen. Sie setzte sich neben mich.
Dann, als wir müder wurden, legte ich meinen Arm um sie und zog sie an mich.
Irgendwann gaben wir auf.
Sigrun lag rechts von mir. Sie hatte sich an ihren Vater geschmiegt wie ein kleines Kind. Ab und zu schluchzte sie. Ich streichelte ihr den Rücken. Utz atmete tief und gleichmäßig. Bald würden wir einschlafen und nie mehr aufwachen. Kommende Generationen würden vier rätselhafte Skelette entdecken, ineinander verknäuelt wie der Glöckner von Notre-Dame und Esmeralda. Ich überlegte noch, ob wir etwas in die Wand ritzen sollten. Einen Abschiedsgruß an meine Mutter vielleicht oder den Namen des Mörders. Es gab niemanden da draußen, dem ich noch etwas zu sagen hätte. Fast alle wichtigen Menschen in meinem Leben waren bei mir, und Mutter würde auch ohne mich den Weg nach Reinickendorf finden. Ich beugte mich zu Sigrun. Ich streichelte ihr Haar, mehr traute ich mich nicht. Dann tastete ich nach Marie-Luise. Sie lag neben mir, auf dem Fußboden ausgestreckt, und griff nach meiner Hand. Ich drückte sie fest. Dann schlief ich ein.
Marie-Luise boxte mich in die Seite.
»Hörst du das?«
Ich wollte nicht mehr aufwachen. Es war warm und dunkel hier. Ich wollte schlafen. Ich hatte so wenig geschlafen in letzter Zeit.
»He, wach auf! Hör doch mal!«
Sie rüttelte mich unsanft, aber ich rührte mich nicht. Sogar beim Sterben ging mir diese Frau auf den Geist. Es war absolut still. Nur Utz atmete schwer. Sie hatte sich geirrt, da war nichts.
Bumm, bumm, bumm.
Marie-Luise kroch über mich hinweg und rüttelte Sigrun am Arm. »Wacht auf! Jemand klopft an die Wand! Hört doch mal. Wacht auf!«
Sie kroch wieder zurück und setzte dabei ihr Knie unsanft in meine Eier. Der Schmerz riss mich zurück aus einem sanften Traum aus weichgespült duftender Bettwäsche.
Bumm, bumm, bumm.
»Von woher kommt das?«, flüsterte sie und boxte mich gleich noch mal an die Schulter. »He, werd endlich wach!«
Sie richtete mich halb auf. Ich drehte mich auf alle viere und begann mühsam, die Wand entlangzukriechen. Sie war so lang wie die Chinesische Mauer. Bumm, bumm, bumm. Ich tastete über den Boden und bekam die Taschenlampe in die Finger. Damit klopfte ich zurück. Drei Mal lang, drei Mal kurz. Nichts. Falsche Wand.
»Es kann nur die Ziegelwand sein«, krächzte Marie-Luise. Ihre Stimme kam von sehr weit her. Ich schleppte mich circa fünfundzwanzig Kilometer auf die andere Seite. Marie-Luise gab mit dem Brecheisen das Klopfzeichen. Drei Mal kurz, drei Mal lang.
Stille. Nur ein klirrender Laut, als sie kraftlos das Brecheisen sinken ließ. »O bitte, bitte«, flüsterte sie.
»Sie hören uns nicht«, sagte ich. Ich nahm ihr die Stange ab und versuchte es erneut. SOS. Save our souls.
Stille. Und dann, endlich, antworteten sie. Drei Mal kurz, drei Mal lang. Drei Mal kurz.
Marie-Luises Hand krampfte sich um
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