Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
beschissen, meine Teuerste ohne von. Außerdem gehöre ich nicht zu den Frauen, die tun, was Joachim sagt.«
»Reiß dich zusammen, Sigrun.« Utz merkte, dass seine Tochter
kurz davor war, die Nerven zu verlieren. »Nutze den Sauerstoff für dein Gehirn. Wir müssen überlegen, wie wir hier wieder herauskommen.«
»Die Steine.« Marie-Luise tastete nach der Taschenlampe und schaltete sie ein. Wir waren alle einige Sekunden geblendet, dann richtete Marie-Luise den Lichtstrahl auf die ungefähre Stelle der Ziegelwand, an der ich den Stein herausgebrochen hatte. Der Stein war wieder drinnen, ordentlich mit Mörtel verputzt, der schon längst abgebunden hatte. Er war von hier drinnen aus eingesetzt worden. Man konnte den frischen Putz deutlich von dem älteren unterscheiden.
»Okay«, sagte sie, »eingemauert sind wir also auch noch. Vermutlich werden wir ersticken. Hier kommt ja nirgendwo Luft rein.«
Ich holte das Brecheisen aus der Ecke und versuchte, den Stein zu lockern. Er bewegte sich nicht, keinen Millimeter. Marie-Luise stand neben mir und hielt die Taschenlampe.
»Dieses Schwein«, knurrte sie. »Diese Drecksau. Wenn ich den erwische.« Ihre Augen glänzten, und dann rollte eine Träne über die Wange hinunter.
»Wir schaffen das«, sagte ich. »Wir kommen hier raus.«
Marie-Luise wischte die Träne weg. Aus den Augenwinkeln sah ich eine Bewegung. Sigrun hatte die Arme vor sich verschränkt und starrte auf den Boden. Dabei wippte sie immer vor und zurück, wie in Trance.
»Mach du weiter«, sagte ich leise zu Marie-Luise.
Ich ging hinüber zu Sigrun und fasste sie unters Kinn. Reflexartig schlug sie meine Hand zurück.
»Du bist schuld. Wie konnte ich nur auf dich hören? Du hast uns hierhergelockt. Wir werden alle sterben, hört ihr? Wir werden hier sterben!« Ich schüttelte sie. Ihr Hinterkopf schlug an die Mauer. Sie stöhnte auf vor Schmerz und kauerte sich noch enger zusammen.
»Sigrun«, sagte ich. »Atme tief und langsam. Ein und aus. Konzentriere dich auf deinen Atem. Damit hältst du die Panik in Schach.«
»Lass mich in Ruhe! Hätte ich dich doch bloß nie kennen gelernt! «
Utz setzte sich neben seine Tochter. Er klopfte ihr wohlwollend auf die Schulter, wie man das unter Männern so macht. Sigrun richtete das nicht eben auf. Sie rückte weg von ihm. Sie zitterte und hyperventilierte. Plötzlich sprang sie auf, raste auf Marie-Luise zu und schlug ihr die Lampe aus der Hand.
»Ich will hier raus!«, brüllte sie. »Ich will nicht hierbleiben! Ich will hier nicht sterben …«
Sie hieb mit der Hand auf die Ziegelmauer, dann rutschte sie an der Wand entlang auf den Boden und blieb dort schluchzend liegen.
Marie-Luise bückte sich wortlos und hob die Lampe wieder auf.
»Ruhe«, sagte ich und hob die Hand.
Von dem Motorengeräusch des Baggers über uns war nichts mehr zu hören, alles war still. Offensichtlich hatte unser Mörder das Weite gesucht.
»Vielleicht war alles ein Versehen«, flüsterte Sigrun. Dann rappelte sie sich auf und schrie: »Hallo! Hier sind wir! Hilfe!«
Es blieb still.
»Hilfe!«, schrie Sigrun. »Geht nicht weg! Holt uns hier raus, holt uns hier raus …«
Ich nahm sie in den Arm. Sie schluchzte, und ich wiegte sie hin und her und sprach auf sie ein wie auf ein Baby. »Es wird ja gut. Es wird alles wieder gut. Glaub mir.«
Schließlich legte sie sich neben Utz und kringelte sich zusammen. Sie sagte kein Wort mehr. Marie-Luise kratzte weiter an der Mauer herum. »Was glaubst du, wann werden sie checken, dass etwas nicht stimmt?«
»Kevin und Ekaterina?«, fragte ich.
Sie nickte.
»Frühestens um zehn, elf Uhr morgen Vormittag. Ekaterina wird versuchen, uns wegen der Flugtickets zu erreichen. Sie wird sich bei Kevin melden. Irgendwann wird den beiden auffallen, dass etwas nicht stimmt.«
Marie-Luise sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist jetzt kurz nach Mitternacht.«
Sigrun stöhnte auf. »Ich halte das keine zehn Stunden mehr hier aus. Ich werde verrückt hier, wenn nicht bald was passiert. Ich brauche eine Zigarette. Rauchen Sie wenigstens?«
Marie-Luise hielt kurz inne, ohne sich nach ihr umzusehen. »Bedaure. Meine sind nass.«
Die Taschenlampe wurde trüber. Wir hatten sie hochkant an die Wand gelegt, so dass jeder etwas von dem letzten Licht hatte, das uns verblieben war.
»Wir werden das hier jetzt mit Würde hinter uns bringen«, sagte Utz. Seine Stimme klang merkwürdig hoch. Ich erinnerte mich daran, dass er als Kind in diesem Keller schon
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