Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
uns das Bild zu. Marie-Luise fing es auf. »Lucas Cranach, der Ältere«, flüsterte sie.
Das Gemälde war nicht groß. Es zeigte die Jungfrau Maria, die lächelnd auf das Jesuskind in ihrem Schoß herabsah.
»Und das?«
Marie-Luise musste den Cranach fallen lassen, um das nächste Bild zu fangen. »Tizian«, hauchte sie. »Das ist ein Tizian! Die siebte Venus!«
Aaron nickte. »Schauen Sie sich um. Vermeer, Courbier, Tischbein. Dürers Kupferstiche, Caspar David Friedrichs Loreleyfelsen. Meisterwerke verlorener Kunst. Unbezahlbar. Ein Vermögen.«
Er lief lachend von Kiste zu Kiste. »Goldmünzen. Tafelsilber.
Der Familienschmuck diverser Großherzöge. Vielleicht sogar noch eine der Gutenberg-Bibeln? Es ist ein bisschen wie Weihnachten und Kindergeburtstag. Ich kann es gar nicht erwarten, alles auszupacken.«
Ich kippte einen großen Rahmen neben mir von der Wand und schaute mir das Bild auf der anderen Seite an. Es war eine sprühende Komposition leuchtender Spektralfarben.
»Ach, das da«, sagte Aaron. »Das ist die Tauschware, vermutlich noch für Luzern gedacht oder die Dienststelle Mühlmann. Reste der Ausstellung Entartete Kunst.«
Er trat einen Schritt näher zu uns. Ich drehte das Bild um und leuchtete es an.
»Franz Marc, Der Turm der blauen Pferde. Ein Meisterwerk, nicht wahr? Gut und gerne zwanzig Millionen wert. Da hinten sind noch einige Expressionisten und ein paar Pissarros und Cézannes. Und jetzt verraten Sie mir, meine werte links denkende und guten Rotwein verachtende Dame: Warum redet die ganze Welt von der Bücherverbrennung, aber kein Mensch davon, was am 20. März 1939 der Kunst angetan wurde?«
Marie-Luise hörte kaum zu, sie konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden.
Aaron setzte sich auf eine Kiste und beobachtete sie. »Siebzehntausend beschlagnahmte Bilder. Tausend von ihnen auf dem Hof der Berliner Hauptfeuerwache im Rahmen einer Übung verbrannt. Und der Rest gehortet, um sie im Ausland wieder für ein paar dicke, altflämische Frauen einzutauschen. Finden Sie nicht, es ist ein Akt der Gnade und Gerechtigkeit, diese Werke aus ihrem Kellerdasein zu erlösen?«
»Nur, wenn Sie sie den rechtmäßigen Eigentümern zurückgeben.«
»Es ist herrenloses Strandgut der Geschichte. Warum fragen Sie nicht die Amerikaner, die in Berchtesgaden geplündert haben? Warum verlangt niemand von den Russen, ihre Kriegsbeute
zurückzugeben? Warum bietet unsere Regierung den wahren Dieben immer noch Entschädigungen an und ist zu feige, sie Lösegeld zu nennen? Da haben wir den wahren Skandal. Ich habe nichts gestohlen. Ich habe nur gefunden.«
»Mit wem teilen Sie die Beute?«, fragte ich.
Aaron ließ endlich von Marie-Luise ab und wandte sich mir zu. »Teilen? Wieso?«
»Sie haben den Coup nicht alleine durchgeführt. Jemand hat Ihnen geholfen. Wer war das?«
»Knechte«, lächelte Aaron. »Leider wollen sie Bares sehen. Mit einer Dürer-Zeichnung ist es da nicht getan.« Er ging einen Schritt Richtung Ausgang.
»Das Kreuz, Nataljas Kreuz«, sagte ich, »stammt es auch aus dem Raub?«
»Welches Kreuz?«, fragte Aaron. Er hob die Waffe und trieb uns langsam zur Tür. »Ich weiß nichts von einem Kreuz.«
»Utz hat Natalja ein goldenes Kreuz geschenkt, das er im Keller gefunden hat. Später hat Ihr Großvater sie des Diebstahls bezichtigt und angezeigt. Sie wurde verurteilt.«
Aaron klappte im Vorübergehen einen offenen Kistendeckel zu. »Ach ja, ich erinnere mich. Das war bedauerlich. Mein Großvater hat mir davon erzählt. Meine ganze Kindheit war überschattet von seinen Schauergeschichten aus zwei Weltkriegen. Das Mädchen war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich bin mir sicher, dass sie noch nicht einmal wusste, was sie damals gesehen hatte. Aber es blieb ihnen wohl nichts anderes übrig.« Er streichelte dem Bronzeputto den Popo. »Auch ich hatte keine Wahl. Diese alte Frau, diese Russin, die zu den Zernikows gekommen ist wegen dieser dämlichen Bescheinigung … Als sie bei dem Alten aufgetaucht ist, habe ich doch tatsächlich gedacht, das Kindermädchen wäre zurückgekommen. Glauben Sie mir, ich hasse es, alten Frauen wehzutun.«
Marie-Luise drehte sich zu ihm um. »Mir bricht das Herz.«
Aaron holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie taumelte. Blut quoll aus ihrer Nase. Noch ehe ich ihr zu Hilfe kommen konnte, zielte er auf meine Brust.
»Vorsicht«, sagte er leise, »Vorsicht. Ich kann es nicht leiden, wenn sich jemand zwischen mich und mein Erbe
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