Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
als Bilderrahmen entpuppten.
Eine der Kisten war geöffnet. Holzwolle quoll heraus. »Darf ich?«
Aaron nickte mir zu. Gut, er wollte, dass wir seinen Coup bewunderten. Ich holte eine Bronzestatue hervor. Ein kleiner Amor, pummelig auf einer Zehenspitze tanzend, der gerade einen Pfeil abschießen wollte.
»Netter Kitsch«, sagte ich. »Ist der Rest auch so?«
»Kitsch?« Aaron sprang auf. Dann zerrte er das erste Bild von dem Stapel. »Hier. Flämisches Meisterwerk, Mitte 18. Jahrhundert. Niederländische, französische, italienische Klassik. Gemälde, Tapisserien, und hier …« Er stieß mit dem Fuß an die Kiste, über die ich gestolpert war. »Rotwein.«
»Rotwein?«, fragte ich. Ich drehte mich zu Marie-Luise um. »Gibt es Rotwein, für den man töten würde?«
»Keine Ahnung«, antwortete sie. »Ich nehme immer den im Tetrapak.«
»Es ist kein gewöhnlicher Rotwein«, spuckte Aaron. »Es ist der Tischwein des Generalfeldmarschalls Göring.«
»Ach du braune Scheiße.« Marie-Luise stieß mit der Fußspitze an die Kiste neben ihr. »Jetzt verstehe ich. Carinhall.«
»Ich sehe, der Groschen fällt. Kann es sein, dass Ihre mathematischen Fähigkeiten doch über das Grundschulniveau hinausgehen? «
»Carinhall wurde platt gemacht«, erklärte Marie-Luise. »Die NVA hat das Gebiet geschliffen und aufgeforstet. Es gibt nichts mehr. Wer glaubt, dass irgendetwas übrig geblieben wäre, dem ist nicht zu helfen.«
»Kann mich mal einer aufklären?«, fragte ich.
Aaron sah zu mir. »Ihre reizende Begleitung ist in puncto Heimatkunde eindeutig besser beschlagen als Sie, Vernau. Carinhall war Görings Jagdsitz, benannt nach seiner Frau, Baronin Karin von Fock. Er beherbergte die größte private Kunstsammlung des Deutschen Reiches. Göring interessierte sich vor allem für frühnordische Meister.«
Marie-Luise räusperte sich. Aaron zielte spielerisch auf sie.
»Ich bin kein Nazi. Ein bisschen mehr Stolz und Vaterlandsliebe, ein bisschen weniger Anarchie und Pseudoliberalität, ja. Weniger Ausländer, mehr deutsche Kinder, eine Rechtsprechung, die die Gesetze achtet – das reicht mir schon.«
»Mir auch«, sagte Marie-Luise. »Ich kotze gleich.«
»Ich teile auch nicht seinen Kunstgeschmack. Zu viele nackte, dicke Frauen. Ich mag es lieber schlank und durchtrainiert. So wie Sie. Frauen, die reiten können. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Es reicht«, sagte ich und trat einen Schritt auf ihn zu. Die Kugel pfiff direkt vor meinen Füßen in die Erde, und ich zuckte zusammen.
Dann zielte Aaron etwas höher. »Den Gesprächsverlauf bestimme ich«, sagte er. »Der letzte Renaissancemensch, wie Göring sich zu nennen pflegte, liebte es, seine Gäste persönlich durch die Sammlung zu führen. Im Anschluss gab es für Mussolini, Hoover oder die Windsors noch einen edlen Tropfen aus dem Weinkeller. Wollen wir mal probieren?«
»Klar«, sagte ich. Mir war alles recht, was ihn ablenkte.
»Nein danke«, sagte Marie-Luise.
Sie kapierte es nicht. Wieder Zeit verloren. Ich konnte nur hoffen, dass Ekaterina den Albaner auf dem Flughafen erwischte.
Aaron zuckte nur mit den Schultern. »Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht. Ich werde später ein Glas auf Ihr Wohl trinken. Auf dass es Ihnen, wo immer Sie dann sein mögen, gut ergeht.«
»Was wurde aus Carinhall?«, fragte ich.
»Die Russen marschierten über die Oder. Göring wollte Carinhall nicht in die Hände des Feindes fallen lassen. Also hat er das Bombardement befohlen.«
»Womit er der Welt unzweifelhaft einen großen Gefallen getan hat.« Marie-Luise konnte sich einfach nicht zurückhalten.
»Ausgeführt wurde der Befehl aber erst, nachdem er seine Kunstsammlung im Wert von sechshundert Millionen Reichsmark nach Berchtesgaden geschickt hatte. Zwei der Waggons kamen niemals dort an. Sie wurden umgeleitet. Nach Belgien.«
Aaron verschränkte die Arme. Leider hielt er die Waffe weiterhin auf mich gerichtet. »Wilhelm von Zernikow hat sie in Empfang genommen. Als die Alliierten Belgien besetzten, hat er mit einem befreundeten Reichsbahner die Waggons zurück nach Berlin dirigiert. Der Inhalt ist in den Keller meines Großvaters gewandert und gilt seitdem als verschollen. Ein perfekter Raub.«
»Mit einem kleinen Schönheitsfehler«, sagte ich. »Natalja hat Wilhelm gesehen.«
Aaron runzelte die Stirn. »Natalja. Das Kindermädchen. Ja.« Er hob mit der freien Hand den nächstbesten Rahmen hoch. »Was ist das? Tintoretto? Rembrandt? Van Dyck?«
Er warf
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