Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
erreichten. Die Bewohner hatten kleine Klapptische mit Obstwein, Blumensträußen und Eingemachtem vor die Häuser gestellt. In einer Biegung entgingen
wir nur knapp einem Zusammenstoß mit einigen Steigen Kartoffeln und Äpfeln.
»Sie weiß, was es heißt, wenn andere einen manipulieren. Weil sie selbst benutzt wurde. Sie ist ein zartes Pflänzchen. Kein Huflattich. Man kann nicht ewig auf ihr herumtrampeln.«
Vielleicht hatte Marie-Luise Recht. Connie versuchte so verzweifelt, aus sich etwas ganz Besonderes zu machen. Ihre wahllose Adaption von Lebensstilen, mit denen sie ihre Harmlosigkeit verbergen wollte; ihre Verweigerung von Erfahrungen, die sie dem Risiko aussetzten, dass sie sich auch einmal irren konnte. Sie bemühte sich so sehr und scheiterte doch, weil sie mit aller Kraft vermied, sie selbst zu sein.
»Döllnsee«, murmelte Marie-Luise. »Und Karin. Noch eine Unbekannte.«
Eine Unbekannte. Eine Fremde. Jetzt fiel es mir ein. Das, was mir die ganze Zeit im Kopf herumspukte. Die verlorene Erinnerung an etwas sehr, sehr Wichtiges. Der Kamin mit der Klappe. Ein gebrochener Arm.
Marie-Luise fuhr, so schnell es ging, über die einzige Straße, die durch das Naturschutzgebiet Schorfheide führte. Dichte Wälder. Lärchen und Birken. Sanddünen.
Ich rief Ekaterina an. »Ist er schon aufgetaucht?«
»Nein«, antwortete sie. Im Hintergrund wurde ein Flug nach London aufgerufen. »Der Eincheckschalter bei Ucrainian ist noch nicht geöffnet. Ihr habt noch zwei Stunden Zeit.«
»Der Albaner«, sagte ich.
Marie-Luise sah kurz zu mir, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die märkischen Alleen.
»Der zweite Mann, der bei dem Überfall bei uns dabei war. Ich habe ihm den Arm gebrochen.«
»Den linken oder den rechten?«, fragte Ekaterina so gelassen, als wäre sie Krankenschwester in einer Notaufnahme.
»Keine Ahnung, das weiß ich nicht. Aber sollte jemand die
Maschine nach Kiew nehmen, der einen geschienten Arm hat, dann ist er es.«
»Ich halte die Augen offen. Wo seid ihr?«
Ich erklärte ihr, was wir vorhatten.
»Seid vorsichtig«, bat sie. »Soll ich nicht doch die Polizei benachrichtigen? «
»Noch nicht. Erst wenn wir ihn haben.«
Ich steckte das Handy in die Jackentasche. Wir passierten gerade die Zufahrt zu einem Wildtiergehege. Wenig später drosselte Marie-Luise die Geschwindigkeit, weil ein größerer Parkplatz auf einer Waldlichtung auftauchte.
»Links geht es zu einer Tauchbasis«, entzifferte Marie-Luise ein Schild. »Rechts zu einem Hotel. Der Waldweg muss hier irgendwo sein.«
Es gab mehrere Waldwege. Genauer gesagt, Dutzende. Unserer aber musste für einen Lkw geeignet sein. Wir unternahmen mehrere Versuche, bis wir den richtigen gefunden hatten. Wenig später hielten wir vor einem rot-weiß gestrichenen Schlagbaum. Marie-Luise stellte den Volvo so tief wie möglich ins Unterholz, dann stiegen wir aus.
Bis auf das Rauschen des Windes in den Baumkronen und das unermüdliche Zwitschern der Vögel war es ganz still. Von weit her konnte man nur ab und zu ein vorbeifahrendes Auto auf der Hauptstraße hören.
Ich überprüfte, ob die Taurus sicher in meinem Hosenbund steckte und ich, wenn nötig, schnell genug an sie herankam. Dann machten wir uns auf den Weg.
Der Waldboden war ausgedörrt von Hitze und Sonne. Lärchennadeln übersäten ihn wie einen hellbraunen Teppich. Trotz aller Vorsicht traten wir immer wieder auf kleine Äste, die laut knackten. Schließlich verließen wir den Weg und schlichen uns durch die Baumstämme an. Nach hundert Metern endete das Dickicht,
und wir spähten aus dem Gestrüpp auf eine große Waldlichtung.
Dort stand eine kleine Jagdhütte ganz aus dunklem Holz, mit einem niedriggiebeligen Dach und rot-weißen Gardinen hinter den Fenstern. Über der Tür prangte das Geweih eines kapitalen Zwölfenders. Einen Schuppen sahen wir nicht. Dafür hörten wir ein brummendes Geräusch.
»Er muss hinter dem Haus sein«, flüsterte ich.
Marie-Luise nickte. Wir beobachteten das Haus und die Lichtung, doch wir sahen und hörten niemanden. Schließlich liefen wir geduckt auf den Eingang der Hütte zu. Unter einem Fenster drückten wir uns an die Holzwand und warteten. Nichts rührte sich. Marie-Luise spähte vorsichtig hinein.
»Nichts«, flüsterte sie. »Komm weiter.«
Wir schlichen um die Ecke des Hauses, dann sahen wir den Lkw. Er war direkt hinter der Hütte geparkt und versperrte die Sicht auf einen Schuppen. Die Tür zur Ladefläche war
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