Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Ordner auf und suchte die einzelnen Register ab. In der Mitte fand ich,
was ich suchte. Ich wollte die Stelle markieren und sah mich um nach einem Stück Papier, das ich zwischen die Seiten klemmen konnte. Doch Utz’ Schreibtisch war tipptopp aufgeräumt. Connie telefonierte immer noch. Ich bückte mich und holte einen von Utz’ gelben Notizzetteln aus dem Papierkorb. Da sah ich es.
Sein Papierkorb war genauso aufgeräumt wie sein Schreibtisch. Er hatte nur am Vormittag im Haus gearbeitet, und er gehörte nicht zu den Menschen, die viel wegwarfen. Da lag sie, unschuldig, zerknüllt, in Gesellschaft mehrerer gelber Zettel und einer Zigarrenbanderole, links in der Ecke des englischen Lederkorbs und wartete auf den Abtransport. Die Kopie. Meine Kopie. Die, die aus meinem Schreibtisch verschwunden war.
Ich schaute hinüber zu Connie, die sich sichtlich Mühe gab mit dem Anrufer. »Wir schicken Ihnen sofort jemanden. Nein, Herr von Zernikow kann im Moment nicht persönlich kommen, frühestens in einer Stunde. – Ja. – Nein, ich verstehe schon, dass es dringend ist. Möchten Sie mit einem seiner Mitarbeiter sprechen? «
Sie sah in meine Richtung, ich schüttelte energisch den Kopf, und Connie zuckte mit den Schultern.
Leise schlich ich an Connie vorbei und ging im Erdgeschoss auf die Toilette. Sie war kleiner als die in meiner Etage, hatte aber einen entzückenden Vorraum, der von einem ovalen Fenster erhellt wurde.
Ein Blick in die abgetrennte Kabine, und ich wusste, dass ich allein war. Ich sah in den Spiegel.
Ich war ertappt und bestohlen worden. Welches war der größere Vertrauensbruch? Dass ich eine Kopie gemacht hatte oder dass man mir diese Kopie gestohlen hatte?
Die Toilettentür ging auf, und Walter betrat den kleinen Vorraum. Er stutzte, dann ging er zum Waschbecken. »Guten Tag, Herr Vernau.«
Beide wuschen wir in epischer Sorgfalt unsere Hände.
»Wie geht es der Freifrau?«, fragte ich. Es war das einzige Thema, das mir auf die Schnelle einfiel.
»Gut«, antwortete Walter.
Dann nickte er mir zu, betrat die Kabine und riegelte sie ab, bevor ich mir über die Reihenfolge seines Tuns Gedanken machen konnte.
Das Apartment der Lehnsfelds lag direkt gegenüber vom Sony-Center im dritten der insgesamt acht Stockwerke. Irgendwie freute mich das. Also war doch etwas gespart worden. Die oberen Stockwerke begannen bei einem Quadratmeterpreis von sechstausend Euro. In der Einfahrt zur Tiefgarage sprach ich mit einem Monitor. Der Portier sah aus wie ein Fernsehmoderator und winkte mich, nachdem er sich von der Rechtmäßigkeit meines Besuches überzeugt hatte, vorbei. Ich durfte hinein.
Aaron erwartete mich an der Tür und ließ mir den Vortritt. Durch einen halogenbeleuchteten Flur gelangte man direkt in einen großen Raum. Vor dem Fenster mit Blick auf die Fensterfront des Mariott stand ein monumentaler Schreibtisch.
»Moment.« Er verließ den Raum und kam wenig später mit einem Stuhl wieder. »Ich hatte noch keine Zeit, mich um die Einrichtung zu kümmern. Ich dekoriere gerade um.«
Er grinste mich an, und ich nickte ihm zu.
»Meine Mutter hätte mir zwar liebend gerne das Chippendale-Esszimmer vermacht, aber es entspricht nicht ganz meinem Stil. Nehmen Sie Platz. Einen Kaffee?«
»Gerne.«
Er hüpfte wieder hektisch nach draußen, und ich hörte, wie in der Küche mit Geschirr geklappert wurde.
Zwei Bilder lehnten umgedreht an der Längswand, so dass man das Sujet nicht sehen konnte. Gegenüber stand eine Vitrine, die mit einigen Scherben und Fayencen bestückt war. Ich sah sie mir genauer an. Sie wirkten alt und echt.
»Milch? Zucker?«, fragte er von der Tür.
»Nur Milch, danke.«
Er balancierte ein Tablett aus ziseliertem Silber, auf dem altenglische Kaffee- und Milchkännchen und zwei Bone-China-Tässchen arrangiert waren. Das Geschirr stand in starkem Kontrast zu der leeren Strenge dieser Räume.
»Das Service meiner Großeltern«, erklärte Aaron. »Von einigen Dingen kann ich mich einfach nicht trennen.«
Er reichte mir ein Tässchen, das bedenklich auf dem Unterteller wackelte. Ich stellte es schnell auf dem Schreibtisch ab.
»Sie haben ja mitbekommen, dass mir mein Großvater sehr nahe stand.«
Ich nickte, öffnete die Aktentasche und holte die Unterlagen heraus. »Die Villa«, begann ich.
Aaron nickte. »Eben. Mein Erbe. Mein Vater hat versucht, mich zu bestechen.« Er hob die Kaffeetasse andeutungsweise in Richtung der Wände. »Er ist ein Opportunist. Im Moment
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