Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
holte den Zettel hervor. »Dann woll’n wir mal, bevor du hier noch umkippst. Du weißt, was das hier ist?«
»Du hattest noch nicht die Güte, mich aufzuklären.«
»Wo hast du es her?«
In meinem Magen verbrannten gerade einige Klafter Holz. Ich löschte den Brand mit der zweiten Hälfte Bier direkt aus der Flasche. Jetzt ging es mir gut. »Sagen wir, es ist mir zugeflogen.« Haha. Noch so ein Schnaps, und ich konnte mit meinen Witzen im Wintergarten auftreten.
Marie-Luise hob die Augenbrauen und wartete, dass mir etwas
Besseres einfiel. Als nichts kam, widmete sie sich mit einem Seufzer wieder dem Papier. »Das ist die Kopie eines Schreibens der ukrainischen Nationalstiftung ›Verständigung und Versöhnung‹ mit Sitz in Kiew.«
Ich wartete. Wie ich sie kannte, würde sie von alleine weiterreden. Nach drei Sekunden sagte sie: »Das ist einer der nationalen Verfolgtenverbände, die bei den Verhandlungen mit der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft eine Art Unterhändlerfunktion eingenommen haben. Sie sind bevollmächtigt, die Höhe der Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter auszuhandeln.« Sie hielt kurz inne. »Sie sind aber auch diejenigen, die die Spreu vom Weizen trennen müssen. Sie entscheiden, wer diese Entschädigung bekommt und wer nicht.«
Sie trank einen Schluck Mineralwasser. Ein Tropfen lief ihr den Hals hinab in den Ausschnitt. Es sah scharf aus und erinnerte an eine spanische Sektreklame. Warum machte sie das?
»Wie, wer nicht?«, fragte ich. Am liebsten hätte ich ihr meine Serviette zum Abtrocknen gereicht. Sie wischte sich den Tropfen weg und verrieb den Rest beiläufig über dem Ausschnitt. Ich fragte mich, wo sie das gelernt hatte. Von mir nicht.
»Nur wer belegen kann, dass er Zwangsarbeit geleistet hat, bekommt auch eine Zahlung. Nicht immer lässt es sich einwandfrei klären. Wer ist diese Frau?«
»Natalja?« Wie durch Zauberhand war meine leere Bierflasche durch eine volle ersetzt worden, daneben wieder ein Glas mit Kartoffelschnaps. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Es könnte sein, dass sie in der Nazizeit im Haushalt der Zernikows gearbeitet hat. Ich bin mir aber nicht sicher.«
Marie-Luise stieß einen leisen Pfiff aus, dann trank sie ein Fingerhütchen von ihrem Schnaps. »Zwangsarbeiter im eigenen Haus«, sagte sie. »Sauber, sauber.«
»Übertreibst du jetzt nicht ein bisschen? Sie war das Kindermädchen. Das hat ja wohl nichts mit Zwangsarbeit zu tun.«
»Es war en vogue, wenn man das so sagen kann«, antwortete sie. »Vor allem in kinderreichen Familien, wenn die Männer gerade an der Front verheizt wurden. Und – in den Familien hochrangiger Nazis. Es gab einfach nicht mehr genügend Arbeitskräfte. Vor allem nicht für derart unwichtige Dinge wie Kinderaufzucht und Haushalt. Die Damen der besseren Gesellschaft hätten sich für Adolf zwar den Arm ausgerissen, haben aber in den seltensten Fällen zum Putzlappen gegriffen. Das haben sie lieber den Polinnen und Ukrainerinnen überlassen.«
Glücklicherweise kam jetzt die Vorspeise. Sie hätte gereicht, eine vierköpfige Familie eine Woche lang durch den Winter zu bringen. Ich begann mit den Bohnen und wies mit der Gabel auf das Papier. »Was steht da jetzt?«
»Es ist eine Anfrage, ob diese Natalja Tscherednitschenkowa tatsächlich bei den Zernikows gearbeitet hat, da kein Arbeitsbuch vorliegt und der Name auch nicht in der Zentraldatei gespeichert ist. Entweder ist sie unmittelbar nach Kriegsende als Kollaborateurin in die Straflager nach Sibirien gekommen, oder sie wollte diesem Schicksal entgehen und hat das Buch vernichtet. Dann helfen nur noch glaubwürdige Zeugenaussagen, um ihre Ansprüche durchzusetzen.«
Marie-Luise bestellte noch ein Mineralwasser, ich bekam mein drittes Bier. Ich hatte seit Wochen nicht mehr so gut gegessen. Mein einziger Wunsch war, nicht satt zu werden. »Wenn Zernikow oder seine Mutter nun bestätigt hätten, dass diese Natalja für sie gearbeitet hat …«
»Geschuftet«, unterbrach mich Marie-Luise. »Unter zum Teil unzumutbaren Bedingungen. Verschleppt, in ständiger Todesangst, als Untermensch gebrandmarkt …«
»Wenn sie das also unterschreiben, hätte das für ihn oder seine Mutter irgendwelche Folgen gehabt? Juristisch gesehen, meine ich. Finanzielle.«
»Nein«, antwortete sie. »Ich vermute mal, die Freifrau hat sich
ordentlich entnazifizieren lassen. Sie kann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Und ihr Sohn auch nicht. Dein zukünftiger
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