Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
mal die besten Voraussetzungen.«
Plötzlich wich alle Blasiertheit aus Aarons Gesicht und machte einem Kinderlächeln Platz. Er öffnete eine Vitrinentür und holte die Reste eines Tellers hervor. »Die habe ich selbst geborgen. Beim Tauchen. Ich tauche für mein Leben gerne. Ich bin ein Schatzsucher, verstehen Sie?«
Ich wollte die Scherbe in die Hand nehmen, doch er zog sie schnell zurück. »Neunhundert vor Christus, Alexandria.«
Vorsichtig legte er sie wieder an ihren Platz.
Ich bewunderte zwei kleine Amphoren und einige Majolika-Teller. »Keine Korallen?«, fragte ich.
Aaron verschloss die Vitrine mit einer raschen Bewegung. »Ich mache das nicht zum Vergnügen«, erklärte er.
Ich fuhr in die Tiefgarage.
Auf der Wilhelmstraße sah ich noch einmal die funktionale Fassade hoch bis zum dritten Stock. Hinter zentimeterdicken Panzerglasscheiben blieb er zurück, der einsame Taucher, der nach Scherben suchte, und das noch nicht einmal zum Vergnügen.
14
Die Mainzer Straße in Friedrichshain war friedlich geworden. Vor ein paar Jahren hatten hier erbitterte Straßenschlachten um die letzten besetzten Häuser getobt. Es hatte nach Kohle gerochen, nach Abwasser, Staub und Aufbruch. Jetzt hatten die Häuser neue Besitzer und niedlich sanierte Fassaden. Hoffnungsvoll gepflanzte kleine Bäume und ein nettes Sammelsurium aus Kleingewerbe, Dönerbuden und Zeitungsläden verbreitete die
selbstzufriedene Atmosphäre von »Unser Kiez ist schön geworden«.
Und ruhig. Meine Schritte hallten an den Wänden. Die Straße war eine Schlucht geblieben, Mietskasernen in Berliner Traufhöhe, Gründerzeit vom Fließband.
Ich klingelte. Es war noch nicht ganz dunkel. Doch bis auf das flackernde Blau der Fernsehbildschirme in den Wohnzimmern und einige trübe Küchenlampen waren kaum Fenster erhellt. Hier ging man früh arbeiten oder gar nicht.
Das Treppenlicht ging an, und ich hörte Schritte, die lauter wurden. Sie riss die Türe auf und sah statt einer Begrüßung auf ihre Armbanduhr.
»Wir gehen da rüber.«
Sie wies auf den Döner-Imbiss schräg gegenüber, in dem sich ein einsamer Libanese vor einem Fernseher langweilte.
Als wir eintraten, stieg mir sofort der Duft von gebratenem Fleisch in die Nase. Gegrilltes Lamm. Die Steaks in der Auslage leuchteten blutrot. Weiße Bohnen mit Petersilie, gebratene Zucchini- und Auberginenscheiben, Spieße, Koteletts und Paprika. Mich überfiel augenblicklich Heißhunger.
Wir waren die einzigen Gäste. Ich bestellte ein Bier, gemischte Vorspeisen und eine Grillplatte, Marie-Luise ein Mineralwasser.
Wir nahmen an einem kleinen Kunststofftisch Platz, der sofort gefährlich zu wackeln anfing. Marie-Luise zog ein Päckchen Zigaretten heraus und bot sie mir an. Sie wusste, dass ich nicht rauchte. Als ich den Kopf schüttelte, zündete sie sich eine an, inhalierte tief und lehnte sich so weit es ging zurück.
Sie trug ein olivgrünes Tanktop und eine ausgeleierte schwarze Jogginghose. Die Haare hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden. Sie wirkte, als habe sie gerade locker einen Fünfzehn-Kilometer-Lauf hinter sich, und dies sei nur der Boxenstopp. Das Tanktop war sehr eng. Wie sie so nach hinten gelehnt auf dem Stuhl hing, der eine Arm lässig nach unten baumelnd, das
Kreuz durchgedrückt, so dass niemandem entgehen konnte, dass sie keinen BH trug, wirkte sie wie eine Amazone in entspannter Lauerstellung. Ich hatte zum ersten Mal Schwierigkeiten, locker zu bleiben.
»Ist lange her«, sagte sie. »Erstaunlich, was du auf dich nimmst, wenn du was willst.«
Es klang, als wütete hier eine gefährliche Epidemie. Marie-Luise, die immune Pest-Ärztin, empfängt den verschreckten Bourgeois mit der Langeweile derer, die schon alles gesehen haben.
»Ich bin mir nicht sicher, wer hier von wem etwas will«, sagte ich.
Der Libanese balancierte vorsichtig ein Tablett, auf dem zwei kleine Schnapsgläser, eine Flasche Bier und eine Büchse Mineralwasser standen.
»Willkommen«, sagte er und deutete auf den Schnaps. Er schenkte das Bier ein, dann deckte er den Tisch. Marie-Luise zog sich einen goldbeschichteten Pappaschenbecher heran.
»Auf uns«, sagte sie. »Und das, was wir lieben.«
Ich trank, und sofort trieb das Zeug mir die Tränen in die Augen. Es schmeckte wie Kartoffelschnaps und wirkte wie ein Bolzenschuss. Um wieder zu Atem zu kommen, griff ich das Bier und trank es in einem Schluck bis zur Hälfte aus.
Marie-Luise musterte mich schweigend, dann griff sie in die Hosentasche und
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