Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
sie
Untermenschen, minderwertig, rechtlos waren. Sie wurden misshandelt. Halb totgeschlagen. Vergewaltigt. Sie erlitten schwerste Störungen, waren unterernährt. Und dennoch. Sie taten mehr als ihre Arbeit. Mehr, als von ihnen verlangt wurde und jemals jemand verlangen kann. Sie liebten die Kinder ihres Feindes.«
»Warum weiß man nichts davon?«, fragte ich Ekaterina.
Doch Marie-Luise gab die Antwort. »Weil geschwiegen wurde. Weil keiner es mehr zugeben mag. Die Kindermädchen haben den Mund gehalten, weil sie nach dem Krieg sofort als Kollaborateure nach Sibirien gekommen wären. Die Herrschaften schwiegen, weil Papa in der SS gewesen war und Mama sich nicht schnell genug das Mutterkreuz abreißen konnte. Zwangsarbeiter? In unserem Kinderzimmer? Niemals!«
»Und die Kinder?«, fragte ich.
»Man redet nicht über etwas, das Jahrzehnte verschwiegen wurde. Was haben diese Frauen den Kindern bedeutet? Die einen haben es verdrängt, die anderen vergessen. Doch viele leiden noch heute darunter, dass eine Fremde ihnen nahe war und dass diese Nähe erzwungen wurde.«
Ich merkte, wie schwer es ihr fiel, die Worte richtig zu setzen.
»Ich habe ein paar Dutzend dieser Kinder von damals kennen gelernt. Sie alle wünschen sich, die Frauen wiederzusehen. Oft sind Schuldgefühle da, die niemals aufgearbeitet wurden. Die sie verschweigen und begraben mussten. Denn viele dieser Kindermädchen waren ihren Schützlingen näher als die eigene Mutter.«
Ich konnte mir die Freifrau nicht als liebende Mutter vorstellen. Hatte Natalja also doch eine so große Bedeutung für Utz gehabt?
Ekaterina sah auf ihre Armbanduhr. »Wie kann ich Ihnen helfen? «
»Wir haben genau so einen Fall«, sagte die lodernde Flamme
der Gerechtigkeit neben mir. »Eine Familie will nicht zugeben, dass sie Zwangsarbeiter beschäftigt hat, und deshalb …«
»Moment«, unterbrach ich sie. »Der Fall sieht mittlerweile ein bisschen anders aus.«
Ich holte das Sondergerichtsurteil aus meiner Tasche. Utz hatte mir gestattet, eine Kopie davon zu machen. Die reichte ich ihr. Marie-Luise überflog den Text, ließ das Blatt sinken und gab es kommentarlos an Ekaterina weiter.
»Es gibt hier wohl einen Trittbrettfahrer«, erklärte ich.
Ekaterina runzelte die Stirn.
»Jemand will auf den Namen einer Toten an die Entschädigungssumme.«
Ekaterina schüttelte den Kopf. »Das ist noch nie vorgekommen.«
Marie-Luise wirkte zum ersten Mal ratlos. »Dann ist Milla also nicht Nataljas Tochter? Das glaube ich nicht. Sie wirkte absolut vertrauenswürdig.«
Frauensolidarität. Sie hatte sie ja auch auf etwas andere Weise kennen gelernt als ich.
»Ich überprüfe das. Darf ich?«, fragte Ekaterina und hob das Blatt hoch. Ich nickte, sie faltete es zusammen und steckte es ein. Dann stand sie auf. »Ich muss mich leider verabschieden. Ich mache das ehrenamtlich, in meiner Freizeit. Ich habe über eintausendzweihundert Anfragen.«
Ich erhob mich ebenfalls. »Es gibt noch einen Namen.«
»Ja?«
»Olga Warschenkowa. Eine Freundin dieser Frau. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.«
Ekaterina notierte sich den Namen auf der Rückseite der Kopie. Dann verabschiedete sie sich.
Ich setzte mich noch einmal zu Marie-Luise.
»Da stimmt was nicht«, sagte sie. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
Ich war erleichtert, dass sie es auch so sah.
»Wir sollten noch einmal mit Milla sprechen«, fuhr sie fort.
»Gute Idee. Die hatten wir auch schon. Das Vögelchen ist aber ausgeflogen.«
»Sie ist wirklich weg?«
»Vermutlich schon auf dem Weg zurück nach Kiew, um ihr Glück beim Nächsten zu probieren.«
»Das glaubst du doch selber nicht.«
Sie trommelte ungeduldig mit dem Portemonnaie auf den Tisch. »Vor fast sechzig Jahren ist eine riesige Sauerei passiert, die bis vor ein paar Wochen säuberlich unter den Teppich gekehrt wurde. So lange, bis diese alte Frau aufgetaucht ist. Und mit einem Mal ist die eine tot und die andere eine mafiöse Russenschlampe? « Sie schüttelte unwillig den Kopf. »Da wurde einfach mal ganz schnell der Spieß umgedreht. Und du gehst ihnen auch noch auf den Leim. Typisch.«
»Was willst du damit sagen?«
Marie-Luise beugte sich zu mir hinüber. So nah, dass ich ihren Atem in meinem Gesicht spürte. »Sie haben dir ein winziges Stückchen Leine gelassen. Wie einem treuen Schoßhündchen haben sie dir ein Knöchlein zugeworfen. Ein klitzekleines Zugeständnis. Okay, mein Lieber, wir haben diese Natalja bei uns schuften lassen, aber nichts
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