Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
meinem Büro?«
»Was?«
Ich drehte seinen Stuhl zu mir herum und setzte mich auf seine Schreibtischkante.
»Diese kleine Hausdurchsuchung. Tut mir leid, mein Lieber, aber ich habe dich gesehen.«
Harry verzog das Gesicht zu einem schuldbewussten Grinsen. »Ich habe was zum Schreiben gesucht.«
Ich nickte. »Zum Schreiben. Was darf’s sonst noch sein? Kopierpapier? Hab ich leider nicht mehr. Gibt es bei Connie.«
Er starrte mich an wie eine Marienerscheinung. Dann schüttelte er den Kopf. Er zog die Schreibtischschublade auf und holte einen Kugelschreiber heraus, den er mir entgegenhielt.
»Da. Entschuldige bitte. Wird nicht mehr vorkommen.«
Es war tatsächlich meiner. Ich steckte ihn ein. »Das war alles? «
»Joachim! Ich wusste ja nicht, dass du das so persönlich nimmst. Entschuldige bitte.«
Er klang aufrichtig mit genau der Prise leiser Empörung, die unschuldig Verdächtigte gerne an den Tag legen. Zumindest so lange, bis man sie eines anderen überführt. Ich nickte ihm zu und stand auf.
»Frag einfach das nächste Mal.«
Absichtlich stieß ich den kleinen Lederköcher um, in dem ungefähr ein Dutzend Stifte steckten. Sie kullerten über die Schreibtischunterlage. Er sah auf sie herab, als hätte er gerade das zweite Wunder vor sich.
Aus Harry war nicht mehr herauszubekommen. Milla war verschwunden. Sigrun kämpfte sich zur Stunde durch Geflüster und Klatsch. Utz suchte seinen Frieden. Im Moment konnte ich nichts tun.
Ich rief meine Mutter an. Ich wollte einfach nur ihre Stimme hören. Aber noch nicht einmal sie war zu Hause.
17
Der Schimmelreiter rühmte sich von außen einer hervorragenden Küche. Auf Schiefertafeln standen in weißer Kreide die absoluten Renner der Gegend: Schinkeneisbein, Rinderroulade, Buletten. Die zwei Stufen zum Eingang waren gesäumt mit weißen Blumenkübeln aus Plastik. Aus dem Innern drang ein schwacher Lichtschein. Die Fenster waren aus karamellbraunem Butzenglas,
und vor ihnen wucherten pinkfarbene Rosen neben neongelben Sonnenblumen.
Auf dem langen Tresen standen eine Sammelbüchse in Form eines Segelschiffes, diverse Sparschweine, Aschenbecher in gewaltigen Ausmaßen und weitere Trockenblumengestecke. Dahinter zapfte eine rundliche kleine Frau Bier. Sie sah hoch, doch ich grüßte nur knapp und versuchte, im Dämmerlicht Marie-Luise ausfindig zu machen.
Von den acht Tischen waren drei besetzt. An zweien wurde Karten gespielt. Am dritten saß ein alter Mann, der dem noch älteren Hund unter dem Tisch gerade einen liebevollen Tritt versetzte.
»Suchen Sie jemanden?«, fragte die Wirtin, und alle schauten hoch und starrten mich an.
Ich setzte mich an den Tresen. »Ich bin verabredet.«
Die kleine Frau nickte, »’n Bier?«
»Gerne.«
Sie widmete sich wieder dem Zapfhahn. »Es wird Zeit, dass es regnet. Diese Hitze. Ist ja nicht zum Aushalten.«
Die Tür ging auf, und Marie-Luise wirbelte herein. Im Schlepptau eine Frau mittleren Alters, die hier offensichtlich recht bekannt sein musste. Von allen Seiten wurden ihr Grußworte entgegengerufen, die Wirtin rollte sogar hinter dem Tresen hervor und nahm sie in die Arme.
»Ekaterina Mahler«, stellte Marie-Luise die Frau vor.
Ich gab ihr die Hand. Sie war Anfang vierzig, hatte schulterlange dunkle Haare, ein ungeschminktes Gesicht und kleine Lachfältchen um die Augen. Ihr Händedruck war fest und trocken.
»Komm, wir setzen uns da rüber.«
»Ich wohne direkt um die Ecke«, erklärte Ekaterina. Die Wirtin brachte mein Bier, den beiden Frauen unaufgefordert ein Mineralwasser und einen Pfefferminztee.
»Wollt ihr auch was essen?«, fragte sie.
»Lieber nicht«, antwortete Marie-Luise. Auch Ekaterina schüttelte den Kopf.
»Und Sie? Unsere Rinderrouladen sind sensationell.«
Eigentlich war es zu warm für Rouladen. Doch ich wollte ihr die Freude nicht verderben. Ich nickte. Eifrig kritzelte sie die Bestellung auf einen kleinen Block und schoss von dannen.
Ekaterina lächelte mich an. »Wie ich hörte, interessieren Sie sich für das Schicksal der verschleppten Kindermädchen im Dritten Reich?«
Das wäre mir neu, wollte ich sagen. Doch dann nickte ich. Es konnte nicht schaden, ein bisschen mehr darüber zu erfahren. Vielleicht konnte ich Milla so sogar noch besser überführen.
»Ein Freund von mir hatte neulich Besuch von einer Dame, die behauptete, als Zwangsarbeiterin in einer Familie gearbeitet zu haben.«
Ekaterina nickte. »Eine von rund hundertsechzigtausend.«
Ich war erstaunt. Bisher
Weitere Kostenlose Bücher