Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Recht. So viele Zufälle konnte es nicht geben. Und alles, was die Telefonnummer der Freifrau auf Millas Block erklären könnte, wäre jetzt an den Haaren herbeigezogen.
Mein Handy klingelte. Wie immer genau zum richtigen Zeitpunkt.
Es meldete sich ein Dr. Haberstall. Und er klang nicht gerade sympathisch. »Vermissen Sie jemanden in letzter Zeit?«
Ich winkte Marie-Luise heran. Sie kam mit dem Ohr an den Apparat.
»Ja«, sagte ich. »Haben Sie sie gefunden?«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich hatte Angst vor dem, was ich jetzt erfahren würde. Außerdem kitzelten mich Marie-Luises Haare.
»Das kann man im Großen und Ganzen so sagen«, antwortete Dr. Haberstall.
»Wo?«
»In ihrem Bett. In eindeutiger Absicht.«
»In meinem Bett?«
Marie-Luise gab ein prustendes Geräusch von sich.
»In ihrem Bett«, wiederholte Dr. Haberstall ungeduldig. Ich verstand beim besten Willen nicht, was er damit sagen wollte.
»Sie meinen, bei mir zu Hause?«
»Bei ihr zu Hause! An Ihrer Stelle würde ich mich schleunigst um sie kümmern. Oder wollen Sie, dass Ihre Mutter in die Gummizelle eingewiesen wird?«
Er legte auf.
»Ich muss weg«, sagte ich. »Meine Mutter. Sie hat wieder irgendetwas angestellt.«
»Kein Problem. Der nächste Bus kommt ja schon in zwanzig Minuten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich setze dich am Zoo ab.«
Mit quietschenden Reifen fuhr ich die Meinekestraße zurück zum Kurfürstendamm. Die Ampel vor der Einfahrt zum Bahnhof sprang auf Rot. Marie-Luise öffnete die Tür und stieg hastig aus. »Ich rufe unseren Freund auf Abschnitt 14 noch mal an. Er soll die Augen offen halten. Vielleicht finden die sie ja.« Sie nickte mir zu. Die Ampel wurde grün. » Alles Gute für deine Mutter. Ich melde mich.«
»Marie-Luise …«
»Keine Sorge. Bis morgen halte ich still.«
Sie warf die Tür zu. Ich gab Gas. Im Rückspiegel sah ich, dass sie mir nachblickte.
18
Vor Mutters Haus am Mierendorffplatz stand ein Notarztwagen. Zur Unterhaltung der Nachbarschaft mit rotierendem Blaulicht. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und kam keuchend im dritten Stock an. Nachdem ich Sturm geklingelt hatte, öffnete mir Hüthchen die Tür.
»Endlich!«, rief sie mit einem unüblichen Maß an Theatralik aus. Ich stieß sie zur Seite und lief in den Flur. Mutter stand im Nachthemd im Wohnzimmer, gestützt von einem Sanitäter der Johanniter Unfallhilfe, der sie geduldig im Kreis herumführte. Als sie mich sah, knickte sie zusammen.
»Nicht hinsetzen!«, sagte der Johanniter laut. »Immer schön laufen. Immer in Bewegung bleiben!«
»Joachim!«, stieß meine Mutter aus. Ich ging auf sie zu, sie
sank in meine Arme. Der Mann trat einen Schritt zurück und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.
»Sie hat sich übergeben«, erklärte er. »Aber sie soll viel Kaffee trinken und noch eine halbe Stunde im Kreis gehen.«
»Das schaffe ich nicht!«, weinte sie. »Ich kann nicht mehr.«
»Schon gut. Sie werden sehen, was Sie noch alles können.« Er nickte ihr zu.
Ich hielt sie fest und begann, in kleinen Schritten den Couchtisch zu umrunden. Hüthchen kam herein und ließ sich in den Fernsehsessel sinken. In den Sessel, den ich meiner Mutter vor zwei Jahren gekauft hatte. Sündhaft teuer. Seniorengerecht. Mit einem elektrischen Mechanismus, der das Aufstehen erleichtern sollte. Völlig überflüssig. Ich erkannte, dass Hüthchen wohl nicht vorhatte, diesen Sessel in den nächsten Jahren zu verlassen.
»Dr. Haberstall ist schon zum nächsten Notfall.«
Ich wechselte auf Mutters linke Seite. »Was ist hier eigentlich passiert?«
Sie schluchzte und brachte keinen zusammenhängenden Satz heraus.
»Schlaftabletten und Tranquilizer«, erklärte der Sanitäter lakonisch.
»Ein Versehen!«, wimmerte meine Mutter. »Es war ein Versehen.«
Hüthchen griff zu einer Packung Chips. Sie lag in der Obstschale, aus der ein Schwarm Essigfliegen aufstob. Die Bananen stammten noch von meinem letzten Besuch. Ich hätte ihr die Tüte über den Kopf ziehen und mit Freuden einem langsamen Erstickungstod beiwohnen können.
»Frau Huth hat uns alarmiert.«
Frau Huth kaute und nickte bedächtig. »Das macht sie sonst nie. Die dreifache Dosis.«
Ich ließ Mutter los. Sie taumelte etwas, fing sich dann aber und
schaute unsicher von Hüthchen zum Helfer und dann zu mir. Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Sie sind wohl ein bisschen vergesslich, was, Mutti?« Er klopfte ihr auf die Schulter. Dann nahm er seine Tasche und
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