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Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen

Titel: Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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hatte ich Natalja für einen Sonderfall gehalten. »Damit wir uns nicht missverstehen«, erklärte ich, »wir reden von Kindermädchen. Nicht von Zwangsarbeiterinnen in Fabriken oder in der Landwirtschaft.«
    Ekaterina nickte. »Es ist kein Missverständnis, sondern die Wahrheit. Diese jungen Mädchen, selbst oft noch Kinder, kamen mit Transporten aus Polen und der Ukraine nach Deutschland. Deutsche Haushaltshilfen gab es nicht mehr, sie arbeiteten alle in der Rüstungsindustrie. Für kinderreiche Familien, aber auch für die Angehörigen von hochgestellten Parteimitgliedern gab es dann die Ostarbeiterinnen.«
    »Und wie hat das funktioniert?«, fragte ich. »Haben sie Deutsch gesprochen? Waren sie ausgebildet?«
    »Weder noch. Nur jung und kräftig sollten sie sein, um möglichst viel zu arbeiten.«
    Ekaterina holte ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich kräftig. »Heuschnupfen«, sagte sie entschuldigend.

    »Bis 1942 kamen viele noch freiwillig. Leichte Arbeit, fester Lohn wurden ihnen versprochen. Gehalten wurde nichts. Als sie nicht mehr freiwillig kamen, wurden sie geholt. Von der Straße weg, aus der Kirche. Komplette Schulklassen wurden verschleppt. Wenn sie hier ankamen, trugen sie Stiefel, dicke Jacken und einen Rucksack. Das war alles. Zu Dutzenden wurden sie zusammengetrieben, und dann konnten die deutschen Frauen sich eine aussuchen.«
    »Wie auf dem Sklavenmarkt«, sagte Marie-Luise.
    Ekaterina nickte. »Oft behielten sie noch nicht einmal ihre Namen. Für die Herrschaft war es einfacher, ihre Dienerin immer nur mit Anna oder Marie zu rufen, statt sich ständig neue Namen zu merken.«
    »Wie eine gewisse Sorte von Männern. Bei denen heißt es dann auch nur noch Schatz.«
    Wenn Marie-Luise vorhatte, jedes Wort von Ekaterina weiterhin so zu kommentieren, würden wir nicht weit kommen.
    »Sie kamen also an, wurden entkleidet, entlaust, fotografiert. Die Fingerabdrücke abgenommen und gleich mit einem neuen Namen versehen. Sie sprachen oft kein Wort Deutsch, lernten aber schnell. Nach dem Krieg haben es fast alle wieder verlernt. Nur ›Russenschwein‹ und ›Auf den Boden!‹, das haben sie behalten.«
    Ekaterina holte sorgfältig den Teebeutel aus ihrem Glas und musterte mich. Sie wollte sehen, welche Wirkung ihre Worte auf mich hatten. Marie-Luise half ein bisschen nach. »Ekaterina kennt diese Frauen. Sie fährt mehrmals im Jahr in die Ukraine und versucht, denen zu helfen, die eine genau so nette Herrschaft hatten wie deine Zernikows.«
    Ich sah zu Ekaterina, ob dieser Name ihr etwas sagte. Doch selbst wenn sie ihn kannte, sie ließ es sich nicht anmerken. »Ich recherchiere«, sagte sie sanft.
    Ich war ihr dankbar für ihre nette, freundliche Art, mit der sie
mit mir sprach. Ganz anders als Marie-Luise, die offenbar wieder an ihrem Feindbild wetzte.
    »Es hat ganz harmlos angefangen. Als ich meine Eltern in Kiew besuchte, bat mich eine Frau, die Familie zu suchen, bei der sie während des Krieges gearbeitet hat. Ich hatte Glück. Die Familie fand ich nicht mehr in Berlin. Aber das Kind.«
    Sie lächelte. »Ein Mann von fast siebzig Jahren. Als ich ihm von der Frau aus Kiew erzählte, fing er an zu weinen. Er hatte sie nie vergessen. Aber er wusste nicht mehr, wie sie hieß und was aus ihr geworden war. Sie haben sich geschrieben und im vergangenen Jahr sogar wiedergesehen. Das war schön.«
    Ekaterina schnäuzte sich erneut. »Aber so sind nicht alle. Es gibt viele, die sich nicht mehr daran erinnern wollen oder können. Die Täter sterben, ihre Kinder werden alte Leute. So ist das.«
    »Er hat sie nicht vergessen?«, fragte ich.
    Die dicke Wirtin kam und brachte die Rouladen. Sie rochen verführerisch und sahen gigantisch aus.
    »Essen Sie ruhig«, bat Ekaterina. »Ich kann ja weitersprechen, wenn es Sie nicht stört.«
    Ich nickte mit vollem Mund. Die Rouladen waren vorzüglich.
    »Es ist vielleicht eines der erstaunlichsten Kapitel dieser finsteren Zeit«, begann sie, »dass inmitten furchtbaren Elends etwas entstand, was …«
    Sie sah zu Marie-Luise. Sie nickte ihr zu, und Ekaterina sprach weiter.
    »… was Liebe war? Manchen Mädchen ging es auch gut in den Familien. Ich kenne viele Fälle, in denen es noch lange Jahre nach dem Krieg engen Kontakt gegeben hat. Doch viele, viele hatten ein anderes Los. Sie waren zwölf, dreizehn Jahre alt, weggerissen von zu Hause und ihrer Familie. Sie arbeiteten von morgens bis abends, oft über ihre Kräfte. Sie kamen zu Leuten, für die

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