Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Telefon stehen. Sie gab Walter ein Zeichen, den Anrufbeantworter abzuhören. Drei Nachrichten waren darauf. Die erste kam von Georg und war für mich. Er hatte den Weinert-Fall abbekommen und versuchte jetzt so höflich wie möglich an die Akten zu kommen. Der zweite war für Sigrun. Ein Journalist vom Tagesspiegel wollte ein Interview von ihr. Der dritte Anruf war wieder für mich. Marie-Luise.
»Vielleicht gehst du ja irgendwann mal an dein Handy. Die vermisste Person wurde auf die Chirurgische Intensivstation des Rudolf-Virchow-Klinikums eingewiesen. Schädelbasisbruch. Komm so schnell du kannst.«
Milla Tscherednitschenkowa.
Abrupt setzte sich die Freifrau auf und drehte den Rollstuhl in meine Richtung. Ich schloss sofort die Tür. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Was, wenn sie unter meinem Kopfkissen weitersuchen wollten? Ich lief zum Bett, legte mich unter die Decke und zog sie bis zum Hals hoch. Keine Sekunde zu früh.
»Halt!«
Walter wollte wahrscheinlich das Licht anmachen. Ich gab einen leisen Schnarchlaut von mir und drehte mich, wie im Schlaf gestört, mit einem Grunzen auf die andere Seite.
Die beiden standen in der geöffneten Tür und gaben keinen Ton von sich. Schließlich hielt es Walter nicht mehr länger aus.
»Ich denke, sie hat ihn rausgeschmissen?«, flüsterte er.
Die Freifrau schwieg. Ich bewegte mich noch etwas unruhiger, damit die beiden endlich verschwanden.
»Kein Stolz«, sagte sie schließlich leise.
»Soll ich?«, fragte Walter.
Ich legte keinen gesteigerten Wert darauf zu erfahren, was Walter sollte oder nicht. Ich wälzte mich noch einmal herum und glitt mit der Hand unter das Kopfkissen. Ich hatte keine Ahnung, ob die Pistole entsichert und geladen war, aber ich hoffte, sie würde zumindest Eindruck schinden.
»Nein«, raunte die Freifrau.
Dann wurde die Tür geschlossen. Ich gab den beiden noch eine Minute, dann schlug ich die Decke zurück und schlich nach draußen. Sie waren weg.
Der Wäschesack lag im Schlafzimmerschrank. Ich wühlte die Taschen durch und war erleichtert, dass der Ring noch da war. Das Zwanzigtausend-Euro-Stück. Die Wiedergutmachung für den immer gleichen Fehler. Ich zog das Bettlaken glatt und holte die Pistole unter dem Kopfkissen hervor. Eine Sig Sauer. Eine gute Waffe. Einen Moment erwog ich, sie mitzunehmen. Dann legte ich sie in die Schublade zurück. Ich schlief entschieden besser ohne sie.
Atemlos startete ich den Porsche und fuhr so leise, wie es möglich war, bis zur nächsten Querstraße. Dann gab ich Gas. Zum Rudolf-Virchow-Klinikum brauchte ich um diese Uhrzeit keine Viertelstunde. Ich schoss über die Autobahn Richtung Wedding, bog einmal rechts ab und hielt mich beim Pförtner nicht mit langen Erklärungen auf. Intensivstation ist ein Wort, das Eile und Sorge gleichermaßen impliziert. Der Pförtner wies mir den Weg.
Ich musste in den dritten Stock und nahm den Aufzug. Als sich die Türen öffneten, ging ich auf einen großen, quadratischen Flur hinaus. Am Fenster stand Marie-Luise und rauchte eine Zigarette. Neben ihr ein randvoller Standaschenbecher. Sie drehte sich um und hielt mir eine Zeitung hin. »Da hast du’s.«
Die Abendausgabe der BTZ. Sie war auf der sechsten Seite aufgeschlagen. Ich sah ihr Foto sofort. Junge Russin am Landwehrkanal
aufgefunden, lebensgefährlich verletzt – Mafia? Mädchenhandel? Selbstmordversuch?
Ich ließ die Zeitung sinken. »Das ist nicht wahr.«
»Doch. Dumm gelaufen, nicht? Noch ein Menschenleben aufs Spiel gesetzt. Aber Hauptsache, den Zernikows geht’s gut.«
»Wie geht es ihr? Ist sie außer Lebensgefahr?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben sie gestern Abend gefunden und gleich operiert.« Marie-Luise drückte ihre Zigarette in dem Ascher aus. »Sie lassen niemanden zu ihr.«
»War sonst jemand bei ihr?«
»Keine Ahnung. Ich bin auch erst vor einer Stunde gekommen.«
Seit sieben Uhr stand dieses Haus also offen für jeden, der einen scheußlichen Job noch schnell zu Ende bringen wollte. Wir mussten zu ihr, so schnell wie möglich.
»Gibt es hier ein Treppenhaus?«
»Bestimmt, aber warum …«
»Komm.«
Ich nahm sie am Arm und ging zu der Glastür. In den Gängen mit spiegelndem Linoleum standen riesige aluminiumfarbene Wäschekörbe. Links von uns, in einem verglasten Büro, saß eine Krankenschwester über irgendetwas Schriftliches gebeugt. Leise war ein Radio zu hören. Geradeaus ging es zu den Krankenzimmern, rechts zum OP. Ich drückte Marie-Luise an die Wand und
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