Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Zeit hatte er viel Energie darauf verwendet, dass ausschließlich seine Kandidaten für das Abgeordnetenhaus durchgesetzt wurden. Sigruns hauchdünne Mehrheit innerhalb der Fraktion kam ins Wanken. Das könnte bedeuten, dass Sigrun selbst nach einem Wahlgewinn nicht mehr nominiert würde.
Sigrun verbarg das Gesicht in den Händen. »Ich schaff das nicht mehr. Ich halte das nicht durch. Ich habe kaum eine Nacht geschlafen in den letzten Wochen. Ich frühstücke Percoffedrinol mit einem Damoklesschwert. Und du bist fort. Einfach gegangen.«
Das war eine leichte Verdrehung der Tatsachen, aber ich hatte hier eine Politikerin vor mir sitzen. Eine, die zudem noch kurz vor dem Durchdrehen war.
»Sie haben gewählt?«
Sigrun wandte das Gesicht ab. Offenbar erschreckte sie im Moment alles, was mit Wählen im weitesten Sinne zu tun hatte. Oder der Kellner sollte einfach ihre roten Augen nicht sehen.
»Einen Moment noch, bitte.«
Der Mann verschwand.
»Ich bin nicht fort«, sagte ich leise. »Ich bin immer für dich da.«
»Das habe ich gesehen.«
Sie holte ein Tempo aus der Aktentasche und schnäuzte sich. »Entschuldige. Entschuldige bitte. Ich bin nicht hier, um dir Vorwürfe zu machen.«
»Kein Problem.«
»Es ist nur … Als ich heute Nacht nach Hause gekommen bin, hatte ich das Gefühl, du wärest da gewesen. Und dann bist du nicht da gewesen. Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und bei jedem Geräusch geglaubt, dass du jetzt kommst. Dass das alles nicht wahr ist. Ausgerechnet jetzt. Ich bin das nicht gewohnt, nicht schlafen zu können.«
»Dir ist kalt.« Ich legte meine Hand wieder auf die ihre. Dieses Mal zog sie sie nicht weg.
»Eiskalt«, flüsterte sie.
»Sie möchten vielleicht schon etwas zu trinken?«
Ich bestellte Mineralwasser. Der Kellner war professionell genug, seine tiefe Unzufriedenheit mit uns zu verbergen. Am Eingang wurden bereits Gäste ohne Reservierung weggeschickt.
»Sofort.«
»Vielleicht war es keine so gute Idee, sich hier zu treffen.« Sigrun sah auf ihre Armbanduhr. »Ich muss um zwei im Abgeordnetenhaus sein. Das hier liegt praktisch auf dem Weg.«
Zwei Gläser wurden mit Wasser gefüllt. Der Kellner legte die Flasche in einen Sektkühler. »Darf es noch etwas sein?«
Wir schüttelten beide den Kopf. Er gab es auf und widmete sich fortan vielversprechenderen Gästen.
»Es ist gut, dass wir miteinander sprechen.«
»Ja?« Sie sah mich an.
»Zwei Dinge interessieren mich besonders. Erstens: Was hat dieser Eintrag M. Tsch. am Dienstag in deinem Terminkalender zu bedeuten?«
»Du schnüffelst in meinen Sachen herum?«
»Es war Zufall. Ich habe nur eine Notiz hineingeschrieben. Vermutlich hast du sie noch nicht einmal gelesen.«
»Wann?«
»Am Sonnabend.«
Sie holte den Timer aus der Aktentasche und schlug ihn auf. Als sie die Nachricht entdeckt hatte, sah sie kurz hoch. Dann klappte sie den Kalender zu und steckte ihn weg. »Sx. Kein schlechter Ansatz. Aber wie immer von den aktuellen Ereignissen überholt. M. Tsch. ist Manfred Tischler. Der stellvertretende Ortsverbandsvorsitzende von Marzahn-Hellersdorf. Es ging um die letzte Sitzung, an der ich nicht teilnehmen konnte. Kommunalpolitik im Spannungsfeld zwischen finanzieller Konsolidierung, politischen Anforderungen und bürgernahen Dienstleistungen. Sie hätten um ein Haar den Leitantrag für den Landesparteitag ohne mich verabschiedet. Dabei ist der bildungspolitische Ansatz der erste, der unter den Tisch gekehrt …«
Sie brach ab. »Entschuldige bitte. Du wolltest zwei Dinge mit mir besprechen.«
»Ich muss mit Utz reden.«
Sie presste die Lippen zusammen und sah durch das Fenster hinaus auf die Französische Straße, die vor Leben pulsierte, doch ihr Blick nahm das nicht wahr. Er blieb irgendwo stecken, so als ob sie träumen würde. Schließlich atmete sie tief ein. »Warum?«
»Hat er dir nie etwas über seine Kindheit erzählt?«
Sie schüttelte dann langsam den Kopf. »Wenig. Die Flucht, ja. Aber eher in Stichworten. Wie eine Kurzbiographie. Geboren und aufgewachsen in Berlin, gegen Kriegsende nach Pommern, dann wieder zurück. Trümmer, Aufbau. Mehr nicht.«
»Und deine Großmutter?«
»Omi? Nichts. Kein Wort.«
»Nichts über ihre Jugend, die große Liebe, Trennung im Krieg, das Kind alleine aufziehen, Mann vermisst, nichts, gar nichts?«
»Ach Gott, ja. Ein paar Sprüche. Blut ist dicker als Wasser und so weiter. Kommissbrot ist ein Gottesgeschenk. Wir haben ja nicht viel aus dieser Zeit. Alte
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