Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
drückte sie. »Joachim.«
Dann wendete er sich zu Marie-Luise, die seufzte. »Mach schon«, sagte ich.
»Marie-Luise.«
Horst strahlte sie an. »Ein schöner Name! Meine Tante hat auch so geheißen.«
Genau das hatte Marie-Luise noch gefehlt. Sie ließ ihn grußlos stehen.
Horst winkte uns noch nach, als wir schon längst auf der Straße waren. Die Nacht war kühl, die Luft ein wenig feucht. Es roch nach Erde und einem seltsam süßen Duft, den man nur in Sommernächten riecht.
»Das sind die Linden«, sagte Marie-Luise, die bemerkte, dass ich tief Luft holte.
»Soll ich dich ein Stück mitnehmen?«, fragte ich.
»Nicht nötig. Ich habe draußen geparkt.«
Wir sahen noch einmal hoch in den dritten Stock. »Es ist gut, dass er da ist. Er wird auf sie aufpassen.«
Sie machte eine unwillige Bewegung und wollte etwas erwidern, dann hob sie bloß die Hand. »Es ist ernst«, sagte sie dann. »Bis heute war das ein abstraktes Planspiel. Du tust etwas, sie reagieren. So ist das in einem fort gegangen. Es war genau vorhersehbar, was geschehen würde. Dass sie hier liegt, ist unsere Schuld. Ich habe geglaubt, so weit, wie ich denke, wird doch niemand gehen. Doch genau das haben sie getan.«
Sie sah mich an. Es lag etwas Weiches, fast Liebevolles in ihrem Blick. »Sie werden noch einmal töten. Verstehst du?«
»Ich möchte, dass du dich ab jetzt aus dieser Sache raushältst.«
»Das werde ich nicht.«
»Doch«, sagte ich sanft. »Ich bringe das alleine zu Ende. Das verspreche ich.«
»Wie?«, fragte sie. »Wie willst du das machen?«
Ich fuhr durch die dunkle Innenstadt und zermarterte mir das Hirn, um auf diese Frage eine Antwort zu finden. Im Moment konnte ich mich am besten schützen, indem ich die Arbeitsbücher so sicher wie möglich verwahrte. Ich hielt vor dem Bahnhof Zoo.
Wachpersonal patrouillierte mit Schäferhunden in langsamen Schritten vor dem Eingang. Im Bahnhof selbst hatten alle Läden geschlossen. Die Anzeigetafel zeigte einige Regionalzüge nach Cottbus, Potsdam und Buckow an. Frauen in Plastikschürzen schoben resigniert den Müll zusammen. Ich durchquerte die Haupthalle und bog am Ende in einen gelb gekachelten Gang. Die kleineren Schließfächer waren fast alle besetzt. Ich fand eines in der untersten Reihe. Erst als ich das Geld eingeworfen und den
Schlüssel abgezogen hatte, ging es mir besser. Ich hatte etwas unternommen. Nicht viel, aber genug, um den Vorsprung der anderen weiter zu verringern.
25
»Guten Morgen! Zeit zum Aufstehen!«
Ich war wieder zwölf, oder siebzehn, oder acht. Die Hälfte meines Lebens hatte mich dieser Schlachtruf zu Tode erschreckt. In drei Kasernenhofschritten durchmaß meine Mutter das Zimmer, riss die Vorhänge ratschend zur Seite, öffnete die Fenster und stieß sie mit Wucht auf. Umgeben von einer Aureole gleißenden Lichts brüllte sie: »Frühstück ist fertig!«, marschierte an mir vorüber und riss mir die Bettdecke weg. Dann war sie draußen und ich frierend, entblößt und schutzlos dem Morgen ausgesetzt. Mit verklebten Augen tastete ich nach meiner Armbanduhr und justierte den Abstand, aus dem heraus ich etwas erkennen konnte. Halb acht. Ich war unter Wahnsinnigen.
»Gib mir sofort meine Decke wieder!«, brüllte ich. Ich lief nackt in den Flur. »Wo ist meine Decke?«
»Hie-ier!«
Ich riss die Schlafzimmertür meiner Mutter auf. Hüthchen stand am Fenster und wedelte mit der Decke herum.
Ich riss sie ihr aus der Hand. »Nicht noch mal«, flüsterte ich ihr zu.
Sie musste Mordlust in meinen Augen erkannt haben, denn sie wich erschrocken einen Schritt zurück und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. »Haben wir Sie erschreckt? Ihre Mutter sagt, das hätte sie immer so gemacht.«
»Richtig«, antwortete ich ihr und schlang die Decke um meine Hüften. »Was glauben Sie, warum ich so geworden bin?«
»Du trinkst doch Kaffee, oder?«
Mutter erschien lächelnd in der Tür. Ihre Augen waren klar, sie schien voller Energie. Sie hatte sich die Haare gewaschen und einen sauberen Rock mit einer etwas zerknitterten Bluse angezogen. Ich ging auf sie zu, so gut das mit der Decke möglich war, sie hielt mir ihre Wange hin, und ich gab ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Wange. Sie roch nach Tosca. Parfüm der hohen Tage.
»Guten Morgen. Hör zu, ich bin erst spät nach Hause gekommen …«
»Kein Grund, halbnackt hier herumzulaufen. Zieh dich an, setz dich an den Tisch, dann erzähle ich dir, wer gestern hier war.«
Sie sah zu Hüthchen, und
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