Das Kindermädchen - Herrmann, E: Kindermädchen
Schwarzweißfotos untergegangener Landgüter. Leba, die Krone des blauen Ländchens. Heute ist das die polnische Ostseeküste, zwei Stunden vor Danzig. Ich wollte schon immer mal hin und mir ansehen, was davon übrig geblieben ist. Aber ich habe nie die Zeit dazu.«
Sie trank einen Schluck Wasser und schaute wieder aus dem Fenster. Vielleicht ging ihr durch den Kopf, dass die wichtigsten Dinge im Leben immer die sind, die sich am schnellsten von den unwichtigsten verdrängen lassen.
»Doch, es gab was. Jetzt fällt es mir wieder ein. Mein Vater war krank. Irgendeine schwere Infektion. Fleckfieber oder Typhus. Er muss sie sich in einem Bunker oder einem Luftschutzkeller zugezogen haben. Daher kommt seine Herz-Kreislauf-Schwäche.«
»Weißt du noch, wann er aus Berlin nach Leba geschickt wurde? «
»Ich weiß es nicht. Im Grunewald ist nicht viel zerstört worden. Ein Blindgänger ist mal in unserem Garten gelandet. Genau da, wo jetzt der Rhododendron steht.«
»Wann kam dein Vater nach Berlin zurück?«
»Februar’ 45. Mit einem der letzten großen Trecks. Davon hat er ja immer wieder erzählt. Du kennst doch die Geschichten.«
»Und warum wurde er nach Leba geschickt?«
»Ich habe keine Ahnung. Alle Kinder wurden irgendwann verschickt. Es gab doch kaum noch Kinder in Berlin und in den großen Städten. Die waren alle auf dem Land.«
»Gab es noch einen anderen Grund? Denk nach!«
Sie schlug mit der Handfläche auf die Tischplatte. Die Gläser klirrten. Am Nebentisch wurde man auf uns aufmerksam. »Ich weiß es nicht«, zischte sie. »Waren die Bomben nicht Grund genug? Die schlaflosen Nächte, die Todesangst? Vielleicht will er sich ja nicht mehr erinnern.«
»Es ist wichtig.«
»Wegen der Arbeitsbücher? Diesem ukrainischen Phantom? Natalja Tscherednitschenkowa ist tot. Das ist unendlich traurig. Aber mein Vater hat damit nichts, aber auch gar nichts zu tun. Lass ihn doch endlich in Frieden. Ich wollte dich sehen, weil …«
Sie stockte und sah mich an. Hilf mir, sagte dieser Blick. Lass mich doch nicht so sentimentale Dinge sagen wie: Ich vermisse dich, oder: Ich brauche dich.
Ich hätte mich für sie vierteilen lassen. Ich wäre für sie durchs Feuer gegangen, vor nicht allzu langer Zeit. Doch jetzt wollte ich wissen, ob sie das Gleiche für mich tun würde. Ich musste wissen, auf wessen Seite sie stand, wenn es hart auf hart kam.
»Deine Großmutter«, sagte ich langsam. »Hat sie etwas zu verbergen? Etwas, das durch die Existenz dieses Kindermädchens ans Licht kommen könnte?«
Sigrun blickte hoch. »Omi? Das glaube ich nicht. Das kann ich nicht glauben. Sie ist stark, und hart, aber sie kann auch unendlich lieben. Ihren Sohn zum Beispiel. Mich. Sie hat ja sogar dich in Kauf genommen, mir zuliebe.« Sie versuchte wieder ihr trauriges Lächeln.
»Es geht nicht um Liebe, Sigrun.«
Wir sahen uns in die Augen. »Es geht um eine Tat. Diese Tat wurde durch etwas anderes ausgelöst. Durch Habgier, oder Angst. Vielleicht auch Eifersucht.«
»Du denkst doch nicht …« Sigrun lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Einen Moment lang verharrte sie vollkommen regungslos. Dann griff sie nach ihrer Tasche und machte dem Kellner ein Zeichen, dass sie zahlen wollte. Sie hatte sich wieder vollkommen im Griff.
»Eins vergisst du«, sagte sie. »Wir sind preußischer Offiziersadel. Ganz kleine Lichter am unteren Ende der Skala. Bauern. Es gibt definitiv nichts, auf das wir zu Recht stolz sein können. Bis auf eines: die Ehre. Die Zernikows mögen im Krieg massakrieren, aber sie morden nicht.«
Es klang absurd, aber es war wahr. Wer die Freifrau kennen gelernt hatte, wusste, dass die Standesregeln ihr alles bedeuteten. Ich seufzte ärgerlich. »Angenommen, du hast Recht. Angenommen, deine Großmutter wäscht ihre Hände in Unschuld. Und dein Vater leidet unter partieller Amnesie. Das alles vorausgesetzt, muss es einen Dritten geben. Jemand, der Olga für Natalja gehalten und sie umgebracht hat.«
»Es reicht, Joachim, es reicht. Merkst du nicht, dass du dich da in etwas hineinsteigerst? Ist es die Tochter? Oder deine Anwaltsfreundin? Du hast dich verändert.«
»Es ist eine alte Frau in Kiew, die darauf wartet, dass sich irgendjemand an sie erinnert.«
Sigrun schwieg. Sie überlegte, wie groß der Schatten war, über den sie springen musste. »Du weißt, was du von mir verlangst.«
Ich nickte.
»Du weißt, dass es mir beruflich das Genick brechen kann. Ach was, kann. Es wird mir das Genick
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