Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
leblos. Ein von Gott verlassenes Land, denkt Urgroßmutter unwillkürlich, als sie noch verschlafen aus dem Fenster schaut. Er streicht sich über sein graumeliertes Haar, atmet einmal tief durch und sagt dann:
»Dieses Haus soll unser Zuhause werden, dieser Hof uns eine wirkliche Heimstatt geben.«
»Gut«, antwortet sie, »kann ich jetzt wieder schlafen gehen?« »Nein, trink erst mal einen Schluck Kaffee«, bittet er sie und schenkt ihr dampfenden, schwarzen Kaffee in die Tasse. Nichts sei so wichtig wie ein eigenes Heim, fährt er dann fort. Das mache einen unabhängig und frei. Es regnet, sie trinkt ihren Kaffee. Er ist gut und stark. Sie sitzt vorgebeugt da und lauscht dem Regen, hört ihren Mann erst von einem Heim, dann von sich selbst und schließlich von seinem Leben reden. Es hört sich an, als wolle er sämtliche Fäden hier in der Küche von Barðastaðir zusammenlaufen lassen, in einer regnerisch grauen Dämmerstunde. Sie weiß, dass er auf irgendetwas hinauswill, und versucht sich zu konzentrieren, aber manchmal fühlt es sich an, als ob ihr Bewusstsein mit dem Rauschen des Regens draußen eins würde, und dann sitzt nur noch ihr leerer Körper auf dem Küchenstuhl, sie selbst aber befindet sich draußen im Regen irgendwo zwischen Himmel und Erde. Währenddessen erzählt er davon, dass er sein halbes Leben mit Trinken und sinnlosen Träumen von Reisen und fernen Ländern vergeudet habe, dass diese Träume wie Irrlichter im Moor gewesen seien und nichts als eine Flucht davor, endlich die Wirklichkeit anzugehen. »Das ist mir jetzt klar geworden«, bekennt Urgroßvater.
Und sie stimmt ihm darin vielleicht zu, ohne es selbst recht mitzubekommen.
Er ruft noch einmal den November vor zwei Jahren in Erinnerung: Die Spanische Grippe. Als diese Wochen damals hinter ihm lagen, hatte ihn eine seltsame Leere befallen. Für ein paar Wochen war er wichtig gewesen, hatte seinen Mann gestanden, das Leben gemeistert. Dann aber war der Alltag zurückgekehrt mit seinem Einerlei und seinen festen Regeln, und jene Leere hatte sich in ihm festgesetzt. Nichts mehr schien irgendwie von Bedeutung zu sein … und dann hatte er diesen Auftrag erhalten, Barðfastaðir zu verkaufen. »Ja«, sagt Urgroßmutter und schaut auf. Sie ist nicht mehr im Regen zwischen Himmel und Erde. Sie schaut auf und sagt: »Ja, und da warst du auf einmal davon überzeugt, dass die Chance deines Lebens gekommen war.« Urgroßvater steht da und sieht sie voller Enthusiasmus an. Obwohl er inzwischen weit über fünfzig ist, scheint ihm die durchwachte Nacht nicht das Geringste auszumachen, nicht eine Spur von Müdigkeit ist ihm anzusehen. Zuweilen hat Urgroßmutter den Eindruck, er sei nicht einen Tag älter als sie selbst – trotz der bald zwanzig Jahre, die sie auseinander sind. Denn trotz der grauen Haare, der tiefer werdenden Falten auf der Stirn und in den Augenwinkeln scheint die Zeit durch Urgroßvater hindurchzugehen, ohne sichtbare Spuren zu hinterlassen. Was immer auch passiert, jedes Mal wird er sich wieder aufrappeln, wie tief er auch fallen mag, immer wird er früher oder später mit diesem Gesicht, seiner Alterslosigkeit und seinen strahlenden Augen wieder vor ihr stehen. Und jetzt ist er auf dem Weg nach Reykjavik.
Es ist Anfang Juni, und er will in die Stadt. Er wirft nicht das Handtuch, wie sie befürchtet hat, und gibt auf, nein, ganz im Gegenteil, er will ihr Leben auf dem Lande sichern und ausbauen. Urgroßvater hat sich alles genau überlegt. »Man muss gemäß seinen Anlagen leben«, sagt er. »Es bringt nichts, sich nur in romantischen Träumen ein Leben von Ruhe und Frieden in der Einsamkeit auszumalen. Du hast gesehen, wie es mir im Winter gegangen ist. Ich muss noch etwas anderes zu tun haben, sonst könnte es hier bei uns noch böse enden – du weißt, was ich meine.« Und darum will er nach Reykjavik und Ratschläge einholen, sich gründlichst mit dem Neuesten in der Landwirtschaft vertraut machen, möglicherweise einen Kredit aufnehmen, und außerdem geht ihm so das eine oder andere hinsichtlich der Handelsmöglichkeiten in Arnarstapi durch den Kopf. Diese Gegend stagniert, als hätten die Leute keine Ahnung von all den Neuerungen, die andernorts vor sich gehen. »Ich habe meinen Platz und meine Lebensaufgabe gefunden«, sagt er. »Das bedeutet Ruhe, und es bedeutet Bewegung. So finde ich das Gleichgewicht, nach dem ich mein ganzes Leben gesucht habe.« Er wird drei, vier Wochen, höchstens fünf, weg sein.
Es
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