Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
schlotternd aus Angst vor der dunkelblauen Tiefe, überprüft laufend das Tau und fängt beträchtlich mehr als vorher. Der Winter bleibt bis über Weihnachten hinaus mild. Zweimal in der Woche rudert Urgroßvater hinaus. Das ist schwere Arbeit. Es kostet viel Kraft, die Steine und das vollgesogene Netz einzuholen. »Fühl mal!«, sagt er zu Urgroßmutter und spannt die Oberarmmuskeln an. Dann wird die Zeit träger. Nach dem Jahreswechsel schneit es so viel, dass Januar und Februar ineinander übergehen, Tag und Nacht eins werden. Der Schnee fällt so dicht, dass es schwer fällt, draußen Luft zu holen. Die Ställe liegen fast hundert Meter vom Haupthaus entfernt. Bei derart schlechtem Wetter ist das eine beträchtliche Strecke, die riskant und sogar lebensgefährlich werden kann. Im Sommer hatte Urgroßvater die Nähe von Fremden fast nicht ertragen können, doch da wusste er, dass die Welt existierte, sie summte und brummte überall um ihn herum. Hinter jedem Berg und jeder Kuppe gab es Leben. Jetzt verstreichen die Tage, Schneefall und wildes Schneefegen löschen die gesamte Landschaft aus, alle Entfernungen, nur die Familie ist noch da. Während eines drei Tage andauernden Unwetters im Februar steht es so schlimm mit ihm, dass er sich nicht vor die Tür oder überhaupt auf die Beine wagt, sondern fast den ganzen Tag im Bett bleibt und nicht eher wieder aufsteht, als bis die Welt mit ihren Bergen, dem Meer, dem Horizont und allem Zusammenhang zurückkehrt. In der Zwischenzeit geht Urgroßmutter allein in den Stall. Sie liebt dieses blinde, weiße Wüten und freut sich jedes Mal darauf, aus dem Haus zu treten und zu spüren, wie das Wetter auf sie eindrischt. Es ist, wie sich mit Gott zu prügeln. Du brauchst deine äußerste Willensanstrengung, um diesen Kampf lebend zu überstehen. Dann aber beruhigt sich alles, das wütende Heulen des Sturms lässt nach, die Stöße gegen das Haus verebben, die Welt kehrt zurück, ein ruhiger Himmel wölbt sich darüber. Weiße Stille, weißes Schweigen, und sie hören die Eiszapfen wachsen.
Derjenige, der diesen unbedeutenden Namen trägt
Als die nächste Bootslieferung kommt, schüttet es. Widerlicher Winterregen, ungemütlich kalter Wind, die Erde ist kalt und schmuddelig, in allen Senken liegen zusammengeschmolzene Haufen Schnee, und Raben krächzen im Regen. Niemand erwartet sie am Strand. Sie gehen zum Haus hinauf, bei jedem Schritt knarrt das Ölzeug. Das Haus liegt totenstill da.
»Sind die etwa abgehauen?«, fragt einer ungläubig, denn jeder Umzug ist auf dem Lande eine Sensation ersten Ranges, in jedem Fall eine Schlagzeile auf der Titelseite, mindestens einem bekanntgewordenen Seitensprung oder einer unpassenden Schwangerschaft ebenbürtig. Höchstens ein tödlicher Unfall kann eine solche Neuigkeit übertrumpfen. Mord kommt nur in Büchern oder ausnahmsweise einmal in hundert Jahren vor. Der Regen prasselt auf sie ein, der Kapitän mustert das Haus.
»Wir sollten mal klopfen«, sagt einer der Matrosen unter seinem Südwester. Unwillkürlich haben sie einen Halbkreis um den Kapitän gebildet. Sein rotes Haar drängt unter der Mütze hervor. Er sagt etwas, das weder im Zusammenhang mit ihnen, dem Wetter oder dem Haus zu stehen scheint. Die Matrosen werfen sich verlegene Blicke zu. »Na, soll ich jetzt nicht endlich mal anklopfen?«, fragt schließlich einer, doch da guckt Großvater gerade aus dem Fenster, sieht ein paar schemenhafte Gestalten davor und schreit vor Schreck auf. »Aha, sind also doch nicht alle ausgeflogen«, sagt einer der Matrosen.
Es ist März. Urgroßvater liegt im Bett und döst, als die älteste Tochter auftaucht und verkündet, dass sechs Seeleute vor der Tür ständen. »Mama hat erst mal Kaffee aufgesetzt. Du sollst ihnen die Tür aufmachen und sie hereinbitten.« Euphorie ergreift von Urgroßvater Besitz. Er springt aus dem Bett, rennt fast die Stufen hinab, reißt die Tür auf und ruft: »Willkommen!« in das scheußliche Wetter hinaus. Die Kinder werden von seinem Übereifer angesteckt, sie toben herum, und Großvater zeigt, dass er Kopfstand kann. Urgroßvater spricht laut und wie aufgedreht, haut krachend auf Schultern und lacht. Die ältere Tochter setzt sich ans Harmonium. Kaffee und Gebäck werden aufgefahren, Urgroßvater gibt Anekdoten zum Besten. Er ist ein begnadeter Geschichtenerzähler, der Mimik, Stimme, Gesten einzusetzen weiß, wenn es drauf ankommt. Alle verplaudern sich, bis auf den Kapitän, der Urgroßmutter jedes
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