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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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Mund, obwohl er vermutete, dass dies wohl unnötig war. Aber es war für ihn eben einfacher, seine Gedanken in gesprochenen Worten wiederzugeben.
    Gutsein ... ein Gefühl der Fülle und der Richtigkeit ... Zufriedenheit strömte von dem Uralten aus, verbunden mit einem Bewusstsein des einzigartigen Werts und Orts einer Seele in der Welt. Kits augenblickliche Deutung dieser miteinander verbundenen begrifflichen Spuren erschien als: Das ist gut. Geschöpfe mit Seele sind selten.
    »Ja, selten.«
    Der Häuptling gab ein zufriedenes Grunzen von sich. Der nächste Gedanke, der sich in Kits Bewusstsein formte, war die Erkenntnis von langen und verschiedenartigen Erfahrungen, die sich mit der Verwunderung über eine plötzliche aufsehenerregende Einzigartigkeit verband. Daraus entnahm Kit folgende Bedeutung: Wir haben vieles gesehen, aber niemals etwas wie dich.
    »Und ich habe noch nie irgendetwas wie dich gesehen«, erwiderte Kit.
    Was Kit als Nächstes empfing, interpretierte er als eine Art förmliche Vorstellung. In seinen Geist ergoss sich eine komplizierte, vermischte Konzeption, eine Assoziation von Bildern: reine tierische Kraft und Tapferkeit, verbunden mit majestätischer Überlegenheit – vielleicht ein Löwe? –, und all das war kombiniert mit einem Gefühl von Dauerhaftigkeit – wie bei einer Eibe oder einem Berg – und zum Schluss mit einer Vorstellung von Gelassenheit, die auf einen ruhigen Frischwassersee von immenser Größe und grenzlosen Tiefen bezogen war. Dann wurden all diese Komponenten irgendwie verknüpft und vereint in einer Bekräftigung individueller Personalität, und zwar in dem Wesen, das direkt vor Kit stand – dem Uralten.
    Danach legte der alte Häuptling seine dicke Hand auf sein Herz – mit einer Feinheit in der Bewegung, die Kit liebenswert fand – und sprach laut: »En-Ul.«
    Dies war ohne Frage der Name des Uralten. Kit wiederholte ihn sofort und sagte anschließend: »Sehr erfreut, dich kennenzulernen, En-Ul.« Mit einer kleinen Verbeugung senkte er seinen Kopf; es war eine spontane Reaktion, doch Kit hatte die Empfindung, dass sie der Situation angemessen war. Als Antwort erhielt er ein zufriedenes Grunzen. Die nächste Frage strömte in Kits Bewusstsein und formte sich bereits zu Worten: Wo ist dein Zuhause?
    »Mein Zuhause ist weit weg von hier.« Kit wählte diesen Satz als Antwort. Mehr zu sagen wäre unnötig gewesen – und wahrscheinlich sowieso unmöglich.
    Die nächsten beiden Fragen erfolgten in so rascher Abfolge, dass sie sich zu einer einzigen Erkundigung formten: Warum bist du allein? Bist du von deinem Stamm ausgestoßen worden?
    »Nein, nein, ich bin kein Ausgestoßener«, versicherte Kit hastig. »Ich bin allein, weil ich ... verloren gegangen bin. Ich bin auf einer Reise gewesen und habe mich verirrt.« Er wusste nicht, ob der Begriff des Reisens übersetzt würde. »Mein Stamm ... meine Leute wissen nicht, dass ich hier bin.«
    Ein Gefühl teilnahmsvollen Bedauerns strömte zu Kit und überschwemmte ihn in Wellen: einfühlsames Mitleid, vermischt mit einer Empfindung der Verkehrtheit einer solchen Lage, wie sie Kit beschrieben hatte: Das ist schlimm. Du ... dies war wohl besitzanzeigend gemeint ... Mitwesen – deine Leute ... Kit entschied, dass das Nächste strikt imperativisch zu verstehen war ... muss ... Es folgte ein Ausströmen von Kummer und Sorge ... trauern ... Dann kam ein leerer Ort ... Abwesenheit ...
    Deine Leute müssen traurig sein über deine Abwesenheit.
    »Ich nehme an, einige von ihnen sind das«, stimmte Kit lahm zu.
    Der Uralte gab ein weiteres zufriedenes Grunzen von sich. Dann sah er Kit tief in die Augen und brachte dabei eine umfassende Großzügigkeit und ein starkes, ihn einschließendes Gemeinschaftsgefühl zum Ausdruck. Kit konnte dies nur beschreiben als ein Gefühl, das sich einstellte, wenn man einen lange verschollenen und viel geliebten Sohn willkommen hieß. Es fühlte sich an, als würde ihn der Stamm adoptieren. Es fühlte sich an, als würde er nach Hause kommen.
    Die Intensität des Gefühls, das ihm auf eine so direkte Weise übermittelt worden war, raubte ihm den Atem. Die plötzlichen Regungen seiner lange unterdrückten Empfindungen waren so stark, dass Kit nicht sprechen konnte. Ihm kamen die Tränen, und er begann zu weinen. Es waren Tränen der Trauer wegen seiner eigenen Unzulänglichkeit, seiner Schwäche, seiner geschrumpften, begrenzten Intelligenz und seiner elenden Abhängigkeit.
    Er vergoss heiße,

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