Das Knochenhaus
die Lichtung brach und in ihrem Zentrum die wirre Erhebung aus kreideweißen, schneebedeckten Knochen sah – bleich und geisterhaft im düsteren winterlichen Licht. Der erneute Anblick dieses einzigartigen Gebäudes, errichtet aus Elfenbein, Horn und Knochen, verschlug ihm kurz den Atem. Er hielt inne und näherte sich dann langsamer dem Knochenhaus; anschließend umkreiste er es, bis er den niedrigen Eingang erreichte, der fast vollständig unter dem Schnee versteckt lag.
Kit ließ sich auf die Knie fallen und kroch hinein. En-Ul war immer noch da, und das in beinahe exakt der gleichen Position wie am vorhergehenden Tag, als Kit ihn verlassen hatte: so ruhig und still, dass er möglicherweise tot war. Kit hielt den Atem an, bis er das lange, tiefe Seufzen des Schlafenden hörte, dann entspannte er sich und ließ sich auf seinen Platz nieder. Im spärlichen Licht, das durch das Gitter der ineinander gesteckten Knochen eindrang, sah Kit, dass etwas von den Lebensmitteln und zwei der kleinen Schneehaufen verschwunden waren. En-Ul musste also mindestens einmal Nahrung zu sich genommen haben. Kit fand darin Trost. Was auch immer der alte Häuptling tat, es schloss nicht ein, dass er sich zu Tode hungerte. Bei diesen Gedanken wünschte sich Kit, er hätte für sich selbst etwas zu essen mitgenommen. Er überlegte, sich bei den Vorräten des Schläfers zu bedienen, doch sofort entschied er sich dagegen; er wurde zurückgehalten von dem mächtigen Gefühl, dass er dadurch irgendein Tabu verletzen würde.
Er zog ein paar Pelze zu sich und machte es sich bequem. Jetzt, da er hier war, wunderte er sich, weshalb er sich so beeilt hatte; es schien wichtig gewesen zu sein, aber nun konnte er sich nicht daran erinnern, warum. Er lehnte sich gemütlich zurück und wartete. Eine Weile später – es mochten ein paar Stunden vergangen sein oder nur ein Augenblick – war er sich nicht mehr länger sicher, wie er das Verrinnen der Zeit messen konnte. In der Gegenwart von En-Ul und seinem Träumen wurde die Zeit irgendwie elastisch und schien sich nicht richtig zu verhalten. Andererseits war zu bedenken, dass die innere Uhr von Kit seit seiner Ankunft im Tal aufgehört hatte, in gewohnter Weise zu funktionieren. Wie dem auch sei: Kit hatte den Eindruck, dass er schon seit Stunden im Knochenhaus saß, wenn nicht sogar seit Tagen, und ihm wurde vor Hunger allmählich schwindelig. Er streckte den Arm aus, nahm eine Handvoll Schnee und schob ihn sich zwischen die Lippen. Anschließend spürte er, wie die Eiskristalle in seinem Mund schmolzen und das Nass die Kehle hinunterrann. Es fühlte sich gut an, und als er nach einer weiteren Portion Schnee greifen wollte, fühlt er auf einmal eine Wärme, die in der Nähe seines Herzens pulsierte.
Unwillkürlich legte er eine Hand auf seine Brust und berührte dabei mit dem Arm die glatten Konturen der Ley-Lampe. Anschließend griff er in die Innentasche seines grob zusammengeschneiderten Gewandes und holte das Messinggerät hervor. Augenblicklich ließ er es in den Schnee fallen, wo es ein glänzendes, hell leuchtendes Blau ausstrahlte.
Rasch hob er es wieder auf, wischte den Schnee von ihm ab und starrte auf das leuchtende Instrument. Die Reihe kleiner Lichter auf seiner Oberfläche erfüllte das dämmrige Innere des Knochenhauses mit einem funkelnden indigofarbenen Leuchten, das heller als jemals zuvor war. Und es pulsierte langsam, rhythmisch und beständig – wie ein langsamer Herzschlag.
Kits Haut prickelte in verräterischer Weise: ein untrügliches Anzeichen für einen Ley in der Nähe. Zudem hatten sich die Härchen im Nacken aufgerichtet. Die Luft im Haus knisterte vor aufgestauter Energie, als würde sich ein Blitzschlag aufbauen. Kit, der mit ausgestrecktem Arm die Ley-Lampe vor sich hielt, stand auf.
Er hob das Bein, um auf En-Ul zuzugehen, der immer noch in seiner träumenden Trance war; doch als Kit den Fuß wieder aufsetzte, stürzte er durch den Boden des Knochenhauses. Der schneebedeckte Untergrund gab einfach nach – und Kit fiel plötzlich durch den Raum. Tiefer und tiefer und tiefer stürzte er. Instinktiv rollte er sich zusammen, sodass er eine kugelähnliche Form annahm, und drehte sich zur Seite, um die volle Wucht des Aufschlags mit der Hüfte abzufangen. Doch der erwartete Aufprall trat nicht ein, und er fiel immer weiter.
Das schemenhafte Licht des Knochenhauses verblasste rasch zu einem hellen Punkt weit oben, und die Finsternis umschloss ihn und hüllte ihn
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