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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Lawhead
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in der Säulenhalle des Tempels vor einem kleinen Steinaltar gestanden. Den König unterstützten ein junger Priester und ein Mann, der als Netsvis bezeichnet wurde. Letzterer würde die Weissagung durchführen. Er trug ein blaues Gewand und einen hohen konischen Hut, der dem des Königs ähnelte. Ein paar neugierige Zuschauer waren ebenfalls gekommen, um die Zeremonie zu beobachten.
    Während der letzten Sonnenstrahlen des Tages war ein junges Lamm, dessen Beine man mit einer goldenen Schnur zusammengebunden hatte, zum Tempel gebracht und auf den Altar gelegt worden. Turms – er sah prächtig aus in seinem purpurnen Gewand und dem hohen, goldbesetzten Hut – sprach eine kurze Beschwörungsformel, verneigte sich tief und dankte dem Tier für die Opferung seines Lebens. Durch ein Nicken forderte er Arthur und Xian-Li auf, an den Altar zu treten, und wies sie an, ihre Hände auf das Lamm zu legen. Dann zog er ein Messer aus schwarzem Vulkanglas über die Kehle des Tieres. Das kleine Geschöpf lag still und starb, ohne einen Ton von sich zu geben. Während Bedienstete anschließend die Tierleiche ausweideten, wurde Turms eine goldene Schüssel gereicht, in der etwas vom Blut aufgefangen worden war.
    Er hob die Schüssel hoch und trank, dann bot er sie sowohl Arthur als auch Xian-Li an. Nachdem sie einen kleinen Schluck genommen hatte, zeigte Turms auf ihren Unterleib und sagte: »Öffne genau dort dein Kleid.« Sie folgte seiner Anweisung und enthüllte einen Teil ihres runden Bauchs. Der Priesterkönig tauchte einen Finger in das immer noch warme Blut und zeichnete mit der Fingerspitze einen kleinen Kreis auf ihrem Bauch. Ein weiteres Mal senkte er den Finger ins Blut und malte dann ein Kreuz innerhalb des Kreises; dabei murmelte er ein einziges Wort: »Imantua.«
    Der Netsvis trat näher, verbeugte sich voller Ehrerbietung vor dem König und brachte eine goldene Platte mit mehreren inneren Organen des Tieres als Opfer dar. Die beiden Männer tauschten ein paar persönliche Worte miteinander aus, woraufhin der König verkündete: »Wie ihr gesehen habt, ist das Tier friedvoll und ohne Qualen gestorben. Das ist ein gutes Vorzeichen. Die Leber und die Eingeweide waren makellos und perfekt geformt – auch dies verheißt Gutes für unsere Untersuchung. Wir werden nun die Weissagung durchführen.«
    Er überreichte die Platte dem Seher, der sie zum Altar zurücktrug. Dort begann der Netsvis, die Inhalte zu untersuchen, wobei er mit einem Fuß auf einem unbehauenen Quaderstein stand, den man unterhalb des Altars gestellt hatte. Andere Teilnehmer der Zeremonie versammelten sich um ihn herum und beugten sich alle nach vorne, um die Organe genau in Augenschein zu nehmen und durch die Vorzeichen zu bestimmen, was über die Zukunft des ungeborenen Kindes gesagt werden konnte.
    Die Abenddämmerung setzte ein, und so wurden weitere Fackeln entzündet. Arthur und Xian-Li standen nur da und warteten, während die Priester ihre Überlegungen fortführten und sich dabei eifrig mit leiser Stimme besprachen. Dies dauerte weit länger, als Xian-Li erwartet hätte. Sie beobachtete mit grausiger Faszination, wie einer der Priester das Obsidianmesser aufnahm und damit begann, die Leber in Teile zu schneiden; jeder Abschnitt wurde dann Gegenstand einer sorgfältigen Untersuchung.
    Die ersten Sterne schienen im Osten, als sich der Netsvis schließlich umdrehte und sein Urteil sprach. Turms hörte ihm mit geneigtem Kopf zu und nickte hin und wieder, während der blaugewandete Seher redete. Dann dankte der König ihm für seinen Rat und rief einen Diener herbei, der ein Räuchergefäß mit sich brachte, das an einer Kette hing. Der Diener blies auf die Kohlen im Becken und ließ eine Prise von irgendeiner Substanz auf die glühende Holzkohle fallen. Wohlriechender Rauch quoll aus dem Becken hervor. Turms beugte sich von der Taille an vor, während das Räuchergefäß vor seinem Gesicht hin-und hergeschwenkt wurde. Er schloss die Augen und atmete den Rauch ein ... einmal ... zweimal ... dreimal. Anschließend bewegte er seine Hände, als ob er sie im Rauch waschen würde, und legte sie auf sein Gesicht. Die Innenflächen der Hände presste er gegen die Augen und wurde vollkommen still.
    Xian-Li begann bereits zu glauben, er wäre im Stehen eingeschlafen, als Turms die Augen öffnete und sie anstarrte. Ein Abglanz des aufgehenden Mondes schimmerte in seinen dunklen Augen, als er sprach: »Ich habe das Lebenslicht des Kindes gesehen, das sich

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