Das Knochenhaus
Haarschopf, der ihm über die hohe Stirn fiel. Um den Hals war eine Seidenkrawatte mit goldenem Knopf gebunden. »Lass mich die Ware sehen«, befahl der junge Gentleman und streckte eine behandschuhte Hand durch das Fenster.
Archie gab ihm brav den Apfel und sagte: »Er ist ganz frisch, Sir. Wird Ihnen sehr gut schmecken, Sir.«
»Ha!«, entfuhr es dem jungen Gentleman, der spöttisch grinste. »In dieser Frage werde ich den Urteilsspruch fällen.« Er biss ein großes Stück aus der Mitte des Apfels heraus, kaute und schluckte alles herunter. Dies tat er ein weiteres Mal. Mit nur zwei Bissen hatte er eine ganze Hälfte vom Apfel gegessen. »Dieser Apfel ist total verfault!«, rief der Gentleman und warf den Rest vom Apfel in die Gosse. Er brach in ein höhnisches, schallendes Gelächter aus. »Danke, du kleiner Nichtsnutz!«
Archie hörte innen in der Kutsche das Gezwitscher von weiblichem Gelächter. »Kutscher«, rief der Mann, »weiter geht’s!«
Der Kutscher, der ebenfalls über Archie lachte, schnalzte mit den Zügeln; die Pferde machten einen Ruck und liefen wieder los.
»He, das ist nicht fair!«, schrie Archie. »Sie haben meinen Apfel gegessen! Sie sind mir noch etwas schuldig!«
»Ja-buuh!« Der junge feine Pinkel winkte mit der Hand aus dem Fenster heraus und zeigte Archie mit zwei nach oben gerichteten Fingern das V-Zeichen, während die Kutsche polternd weiterfuhr. Der Junge hob den Apfel aus der Gosse, streckte den Arm nach hinten und warf ihn dem Wagen hinterher. Die Frucht prallte gegen die breite Rückwand der Kutsche, verfehlte jedoch das Fenster.
»Du Dieb!«, schrie Archie. »Du verdammter, stinkender Dieb!«
Er zitterte vor Wut, während er die Rückwand der sich entfernenden Kutsche betrachtete. Ihm kam der Gedanke, hinterherzurennen, das Gefährt einzuholen und hinten draufzuspringen. Er hatte ältere Jungen davon sprechen hören. Nachdem sie eine Kutsche eingeholt und einen reichen Wageninsassen identifiziert hatten, fuhren die Jungen per Anhalter zu seiner Wohnung – in den allermeisten Fällen ein großes Haus in der Stadt oder auf dem Lande. Dann warteten sie in einem Versteck, bis sich die Gelegenheit ergab, das Haus zu betreten und alle möglichen Wertgegenstände zu stehlen, die sich davontragen ließen.
In seinem Fall war ein Diebstahl gerechtfertigt, wie Archie glaubte: Der junge Aristokrat hatte ihn zuerst bestohlen. Archie sammelte sich. Er holte gerade tief Luft, um mit seinem Lauf zu beginnen; wenn er die Kutsche einholte, würde er hinten auf den Stehplatz für Diener springen, wo er sich gut festhalten könnte. Doch im selben Moment hörte er jemanden rufen, der nur ein paar Schritte von ihm entfernt sein musste. »Sie sind weg, Junge. Der Schaden ist passiert. Lass sie wegfahren.«
Archie blickte sich um und bemerkte, dass er von einem Mann beobachtet wurde, der einen langen schwarzen Mantel und einen altmodischen Zylinder aus Biberhaut trug. Der Mann hatte einen dunklen, vollen Schnauzbart und einen nach unten etwas zugespitzten Kinnbart, der wie ein Herz geformt war. Er schien mittleren Alters zu sein. Mit dem Rücken stand er zum Brückengeländer und hielt einen Gehstock hochkant über seine Schulter.
Archie war beschämt, dass seine Demütigung beobachtet und sein Vergeltungsversuch fast entdeckt worden war, und spürte, dass ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er wandte sich rasch zur Seite und begann wegzulaufen. Er hatte immer noch einen Apfel übrig. Wenn er sich beeilte, könnte er zur nächsten Brücke gelangen und vielleicht immer noch die Frucht verkaufen, bevor es völlig dunkel würde.
»Einen Augenblick!«, rief der Mann in dem schwarzen Mantel. »Gib mir noch einen Augenblick von deiner Zeit.«
Archie schaute über seine Schulter und sah, dass der Mann ihm folgte. Er ignorierte ihn und rannte weiter.
»Warte, hab ich gesagt!« Der Mann war beharrlich. »Komm zurück. Ich will mit dir reden.«
»Kann jetzt nicht anhalten!«, rief Archie.
»Ich garantiere, dass es deiner Mühe wert sein wird«, erwiderte der Mann.
Archie hatte zwar nicht ganz verstanden, was zu ihm gesagt worden war. Doch etwas an der trockenen, abgehackten Aussprache, die auf ein aristokratisches Auftreten hinwies, nötigte ihn, anzuhalten und sich umzudrehen – vielleicht auch nur, um zu versuchen, den übrig gebliebenen Apfel zu verkaufen. Während er zurückeilte, nahm er die Frucht aus der Tasche.
»Ich habe gesehen, was passiert ist«, erklärte der Mann. »Ein höchst
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