Das Knochenhaus
Geburtswehen lag – umgeben von erfahrenen etruskischen Ärzten –, wusste sie, dass alles so war, wie es sein sollte. Es gab eine Richtigkeit der Dinge, die jedes Verstehen überstieg. Ihr wurde jenseits aller Zweifel bewusst, dass in jedem einzelnen Moment ihres Lebens ihre Füße entlang eines Pfades zu genau diesem Ort geführt worden waren. Ein beliebtes Sprichwort in China, das sie gelegentlich von ihrer Großmutter gehört hatte, lautete: Die Fäden des Lebens sind leicht zu verweben, aber schwer zu entwirren. Xian-Li wusste, dass die Fäden ihres Lebens von einem Meister des Webstuhls verwoben worden waren, denn Arthur hatte es ihr gezeigt.
Und es war auch Arthur, der – nachdem er den größten Teil eines bangen Tages draußen vor dem Geburtshaus gesessen hatte – neben ihrem Bett erschien, um den ersten Eindruck vom Neugeborenen in sich aufzunehmen. »Gut gemacht, Xian-Li«, sagte er und strahlte vor Stolz. »Wir haben einen Sohn.«
»Ja, einen Sohn«, flüsterte sie. Noch immer war sie vor Erschöpfung etwas benommen. »Ist es nicht das wunderschönste Kind?« Xian-Li zog eine Ecke ihres Gewandes zurück, in das ihr Baby eingewickelt war, und enthüllte ein kleines, verkniffenes rotes Gesicht unter dichtem, spitzem schwarzem Haar, das einem glitzernden Bärenpelz ähnelte. Die Augen des Säuglings waren fest geschlossen und die winzigen Lippen straff zusammengepresst, als ob er entschlossen sei zu schlafen – trotz aller Bemühungen, die möglicherweise unternommen würden, um ihn in diese fremde neue Welt einzuführen.
»Er ist vollkommen«, murmelte sein Vater. Arthur neigte sich dicht über die beiden und gab seiner Frau einen Kuss. »Danke schön.«
Sie ergriff seine Hand und drückte sie.
»Wie sollen wir ihn nennen?«, fragte er, setzte sich auf eine Ecke des Bettes und legte seine Hand auf die winzige Schwellung unterhalb ihres Gewandes.
Ihre Gedanken waren so sehr mit der problematischen Schwangerschaft beschäftigt gewesen – und, um die Wahrheit zu sagen, in irgendwelchen Winkeln im tiefsten Innern ihrer Herzen hatten sie doch nicht ganz an Turms’ Vorhersage einer glücklichen Geburt geglaubt –, dass sie die wichtige Aufgabe der Namenswahl vollständig vernachlässigt hatten. Was auch immer der Grund gewesen sein mochte: Nun wurde ihnen dieses Versäumnis bewusst.
»Er ist dein Sohn«, erklärte Xian-Li und streifte die Stirn des Säuglings mit ihren Lippen. »Du solltest den Namen auswählen, Ehemann.«
»Also gut«, pflichtete Arthur ihr bei. »Hast du irgendwelche Vorschläge?«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Der Sohn eines Engländers muss einen englischen Namen haben. Was auch immer dir gefällt, wird auch mir gefallen.«
Er starrte auf seinen neugeborenen Sohn und hoffte auf eine Eingebung, doch ihm fiel nichts ein. »Ich weiß es nicht«, gestand er schließlich. »Es gibt so viele Namen.«
Sie lachte. »Er braucht nur einen.«
Er rieb sich mit der Hand das unrasierte Kinn. »Darüber sollte eine Weile nachgedacht werden.«
Bei den Etruskern war es Brauch, dass man einem neugeborenen Säugling sieben Tage lang keinen Namen geben durfte. »Am achten Tag«, sagte Turms zu Arthur, »erhält das Kind seinen Namen. Das ist eine sehr alte Tradition. Der achte Tag – das ist der günstigste Tag für die Namensgebung, den Beginn eines neuen Unternehmens oder die Aufnahme einer Reise.«
Arthur gefiel diese Idee, denn sie ermöglichte ihm viel Zeit zum Nachdenken. Allerdings vereinfachte es in keiner Weise das Nachdenken selbst. Bei seiner Suche beschwor er vor seinem inneren Auge die Gesichter von all seinen männlichen Vorfahren – das heißt von all denen, an die er sich, tot oder lebendig, erinnern konnte –, um zu erkennen, wer von ihnen Eigenschaften besessen hatte, die er bewunderte, und welche Namen er vielleicht übernehmen und in Erinnerung bewahren wollte. Dies erwies sich als eine nützliche Übung, doch die ganze Zeit, die er diesem Unterfangen widmete, brachte ihn nicht einer endgültigen Entscheidung näher.
Als vier Tage vergangen waren, fragte ihn Xian-Li, was er sich ausgedacht hatte. Er war gezwungen zuzugeben, dass er zwar mit der Aufstellung einer Liste begonnen hatte, aber noch immer keinen Namen ausgewählt hatte. Er berichtete ihr, was Turms ihm erzählt hatte: Man solle sich zurückhalten, jemandem einen Namen zu geben, bis sieben Tage vergangen wären. Das akzeptierte sie zwar, warnte ihn aber auch: »Grüble darüber nach, so viel du willst –
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