Das Königsmädchen
verbindet, wird eine Macht freigesetzt, die stärker ist als alles, was wir kennen.«
»Aber es ist unmöglich, die Steine miteinander zu verbinden.«
»Warum glaubst du das?«
»Und woher soll man überhaupt wissen, wo die anderen Steine sind?«
»Jedes Volk hat doch seinen Stein«, sagte Atira.
»Atira, wenn alle ihren Stein so beschützen wie wir, dann geht es doch nicht.«
»Und wenn es doch ginge? Lilia, allein die Möglichkeit alle zu besitzen, reicht aus, damit sie ihn nicht in Gefahr bringen würden.«
»Ich hoffe, du hast recht.«
Ich blickte wieder nach oben und noch nie hatte mich so sehr interessiert, was sich über uns befand, wie in diesem Moment. Während Atira sich wieder dem Tempel zuwandte, dachte ich nach. Ich dachte an die anderen Steine – den der Erde, des Wassers, des Feuers und der Luft. Was für eine Macht wäre es wohl, die da entfesselt würde? Es war eine unmögliche Vorstellung, sie alle an einem Ort zu vereinen.
Wie wahrscheinlich war es, dass eines der Völker versuchen würde, die Macht an sich zu reißen? Oft sprach mein Vater davon, wie knapp die Ressourcen in Jeer-Ee waren. Der Wald war zwar groß genug, aber schon jetzt hatten wir Probleme mit der Ernte. Die Sonne schien nur wenige Monate in unserem Tal und die Winter waren so hart, dass es unmöglich war, etwas zu ernten. Wir beteten dann zum Stein der Erde, die Samen mögen zahlreiche Früchte erbringen, doch je größer unser Volk wurde, desto geringer wurden unsere Winterrationen.
Ging es den anderen Völkern genauso? Drohte uns Gefahr aus Kwarr Marrh? Würde das Wüstenvolk uns angreifen, weil sie die einzigen mit uns auf dem Festland waren? Die Wüste zwischen unseren Völkern bot keine nährstoffreiche Erde, sie war neutral. Aber unser Wald war für die Uhuru sicher interessant. Was war mit den Leekanern?
Mein Blick huschte wieder zu der Felswand. Würden sie uns von dort angreifen können? Drohte uns vom Meer aus Gefahr seitens der Amaren?
»Atira?«
Überrascht drehte sie sich zu mir. »Warum ist es uns verboten, die Steinfelder zu betreten?«
Ihre Stirn runzelte sich und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich eine verbotene Frage gestellt hatte. So ein Mist! Ich hatte tatsächlich die Steinfelder erwähnt, es war mir rausgerutscht. Atira kam schnellen Schrittes auf mich zu. Mein Körper spannte sich an. Ihr eindringlicher Blick ließ mich die Luft anhalten und ich versuchte krampfhaft nicht zu zittern.
»Lilia, du weißt, dass man nicht über die Steinfelder sprechen darf!«
»Ja, ich weiß. Keine Ahnung, warum ich daran dachte, « sagte ich kleinlaut. »Vergiss, was ich gefragt habe.«
Ein langer Moment verging.
»Weißt du, Lilia, Neugier ist eine gefährliche Eigenschaft.«
Ich war neugierig. Zu gerne hätte ich gewusst, was in Ja-Han war, ob die Steilwand auf der anderen Seite genauso aussah wie auf unserer und was hinter den Steinfeldern lag. Es interessierte mich brennend, welche Kräfte der Stein noch in sich trug und welche Macht entfesselt würde, wenn alle vier Steine an demselben Ort aufeinanderträfen. »Du musst verstehen, ich möchte nur das Beste für unser Volk.«
»Ja, ich verstehe das. Wir wollen doch alle das Beste für unser Volk.«
»Es braucht gewisse Regeln. Es braucht Menschen wie dich und mich, die dem Volk zeigen, wie es richtig ist.«
Sie packte mich am Arm und ich blickte sie erschrocken an. »Lilia, wir zwei können eine bessere Welt schaffen.«
Ich sah sie fragend an.
»Wie soll das gehen?«
»Der Krieg ist noch nicht vorbei. Solange andere da draußen sind, so lange die anderen Völker uns als ihre Feinde ansehen – so lange sind wir in Gefahr.«
»Aber es wurden vor Jahren die Abkommen getroffen, wir leben doch in Frieden mit den anderen Völkern.«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Es wird nie Frieden geben, solange du etwas hast, das jemand anderes gerne hätte!«
Der Zorn in ihrer Stimme machte mir Angst.
»Aber dann sind wir nicht besser als sie.«
»Besser? Besser? Lilia, ich bitte dich! Hier geht es nicht um besser oder schlechter. Es geht um unser Volk.« Sie war aufgesprungen und fuchtelte wild mit den Armen. »Es können nicht vier Völker nebeneinander leben. Zumindest nicht friedlich. Irgendwann werden sie kommen!«
»Aber wir sind alle Menschen, ich verstehe das nicht.« Traurig schaute ich in die verschränkten Hände auf meinem Schoß.
»Sie werden vorbereitet sein! Wir haben so wenig Krieger, sie werden uns zermalmen wie die
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