Das Königsmädchen
geschehen können.«
»Das ist ein Wunder, Atira.«
»Oh, das ist noch längst nicht alles, Kindchen.«
Sie ging zu einer Fackel und nahm sie aus der Halterung. Dann ging sie mit der Fackel zu einer Pflanze, die neben dem Stein stand und verbrannte ein paar Blätter.
Ich wollte etwas sagen, doch ich konnte nicht. Sobald sie die Fackel wegnahm, konnte ich sehen, wie die Blätter verkohlt herabhingen. Nun nahm sie den Stein und stellte ihn an die Pflanze. Es war, als würde grüner Saft durch die Blätter fließen und die verkohlten Blätter wieder heilen.
»Das ist nicht möglich!«
»Erde bekämpft Feuer. So war es und so ist es.«
Ich war so überrascht. Ich war in Gedanken noch immer bei meinem Traum. Ich hatte nicht gewusst, dass der Stein solch eine Kraft besaß!
Sie stellte ihn zurück an seinen Platz und schloss für einen kurzen Moment die Augen, als würde sie ihm danken.
»Was kann er noch?«, fragte ich wissbegierig.
»Oh, Kindchen. Er sorgt dafür, dass auf unseren Feldern der Samen wächst und gedeiht. Er sorgt dafür, dass unsere Häuser auf gutem Fundament gebaut sind. Er sorgt dafür, dass unser Volk lebt. Ohne den Stein würde es dieses Volk nicht geben.«
»Wäre es nicht besser, wenn ihn mehr Wachen beschützen würden?«
Sie lachte laut auf.
»Jetzt zweifelst du doch nicht etwa an unseren Wachen?«
Ihr Lächeln wurde breiter. »Keine Sorge, wenn sich ein Unbefugter dem Tempel oder der Kapelle nähern würde, dann wüssten wir das. Gerade jetzt, nach dem Mord an Thymus, haben wir die Wachen um den Tempel und die Kapelle verstärkt.«
»Und was, wenn es jemand aus dem Volk versuchen würde?«
»Du hast dich nicht mal getraut den Stein zu berühren, nein, das würde niemand wagen.«
»Warum hast du es mir gezeigt?«
»Nun, weil ich glaube, dass du auch die angenehmen Seiten des Tempels sehen solltest. Der Stein entführt dich in eine andere Welt. In eine schöne Welt. Du kannst ihn so oft berühren, wie du möchtest, wenn du die Oberste wirst.«
Ich zuckte kurz zusammen. Ich überlegte, wie oft sie wohl in diese schöne Welt verschwand. Ich wollte unbedingt sehen, was in der Höhle war, und ich wusste, dass ich dieses sorgenfreie Gefühl unbedingt wieder spüren wollte. »Lilia, ich habe schon so viel Zeit mit dem Stein verbracht, wie niemand sonst bisher.«
Ich nickte.
Eine Zeit lang saßen wir einfach auf der Bank und hingen unseren Gedanken nach. Dann nahm sie meine Hand und führte mich aus der Kapelle heraus. Die Wachen sahen uns stirnrunzelnd an und überprüften mit einem flüchtigen Blick über die Schulter, ob der Stein noch an seinem Platz war.
Wir gingen auf dem Plateau spazieren, vorbei an diversen Häusern, bis wir an der steilen Wand von Ja-Han ankamen. Ich blickte nach oben, konnte aber nicht erkennen, wo die steile Wand endete. Die Wolken waren zu dicht. »Lilia, glaubst du, von dort oben droht uns Gefahr?«
Ich sah Atira erschrocken an.
»Nein, du?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Es wäre interessant zu wissen, was dort oben ist!«
Ich hatte mir darüber nie Gedanken gemacht. »Vielleicht ist es einfach eine Wand.«
»Vielleicht leben dort oben aber auch die Leekaner.«
Erschrocken drehte ich mich zu Atira, die noch immer die Wand hochschaute und ihr Gesicht nicht verzog. »Sie könnten uns von dort oben angreifen.«
Ich riss vor Schreck die Augen auf und brachte instinktiv etwas Abstand zwischen mich und die Wand.
Mir war immer klar, dass HINTER der Wand die Leekaner lebten, das Volk, das im Besitz des Steins des Feuers war und wunderschöne Waffen schmiedete. Ich war immer davon ausgegangen, dass auch sie eine große Mauer vor sich hatten. Wie wir.
Was, wenn dem nicht so wäre? Was, wenn sie bis oben an den Rand gehen konnten, weil die Wand auf ihrer Seite nicht steil war?
»Wir müssen den Tempel absichern!«
Beruhigend legte Atira ihre Hände auf meine Schultern und sah mich eindringlich an. »Keine Bange, das würden sie nicht wagen.«
»Warum nicht? Was macht dich so sicher?«
»Na wegen des Steins.«
Ich verstand nichts mehr.
»Sie würden es nie wagen, aus Angst den Stein der Erde zu zerstören«, erklärte Atira.
»Sie können mit dem Stein der Erde doch sowieso nichts anfangen. Sie haben doch den Stein des Feuers, der ihr Volk beschützt«, überlegte ich laut.
»Lilia, was ich dir jetzt sage, muss unter uns bleiben!«
Ich nickte langsam. Sie holte tief Luft und schaute mich eindringlich an. »Wenn man alle Steine miteinander
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