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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Ravel. Versuchen Sie sich zu entspannen. Sie machen den Eindruck, als hätten Sie in den letzten Tagen nicht viel geschlafen, und die Müdigkeit macht nichts besser.«
    Ich erhob mich ebenfalls und drückte ihre Hand. Plötzlich war mir der tiefere Sinn dieser einfachen Geste bewusst. Es war eine Geste, die ich nicht häufig vollzog. Eine Hand zu geben. Meine Hände sind nicht schizophren.
    »Danke, Madame.«
    Ich verließ die Praxis.
22.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 113: das Gedächtnis
    Es heißt, wenn man seine Probleme benennen kann, hat man bereits das halbe Heilmittel gefunden. Also: Ich leide an einer retrograden Amnesie. Genauer: Ich erinnere mich an kein Ereignis vor meinem zwanzigsten Lebensjahr. Die wenigen Dinge, an die ich mich erinnere, sind vielleicht falsche Erinnerungen, Dinge, die mir vermutlich meine Eltern erzählt haben und die ich übernommen habe, oder das, was man reduplikative Paramnesien nennt, Illusionen des Gedächtnisses. So steht es in den Lexika. Das äußert sich durch Déjà - vu -Eindrücke oder verworrenes Wiederaufleben von Szenen aus der Kindheit. Manchmal erlebe ich solche Szenen als Flashs angesichts einer Sache, eines Dufts oder eines Klangs.
    Es ist ganz besonders schmerzlich, wenn man sich nicht an seine Kindheit erinnern kann, nicht einmal an seine Jugend. Beim Selbstverständnis, bei der Selbsterkenntnis, ist eine so große Lücke zwangsläufig eine Behinderung. Also kenne ich mich schlecht. Also bin ich in allem unsicher, was mich betrifft. Ich bin mir nicht sicher über meine politische Neigung, über meine Vorlieben, über meine Interessen. Es heißt, ein Mensch ist das Ergebnis aller Entscheidungen, die er in seinem Leben getroffen hat. Ist man dann noch ein Mensch, wenn man sich an keine Entscheidungen erinnert?
    Manchmal jedoch habe ich den Eindruck, mich an Dinge von früher zu erinnern. Es sind vage Erinnerungen, aber immerhin Erinnerungen. Ich weiß nicht, ob sie real sind oder einfach Paramnesien, die durch meine mentalen Probleme verursacht werden, doch ich habe trotzdem den Entschluss gefasst, diese Erinnerungen hier zu notieren. Vielleicht kann ich auf diese Weise Schritt für Schritt den Menschen rekonstruieren, der ich bin oder der ich war. Das nennen die Psychiater ›Schritt-für-Schritt-Technik‹. Das heißt, ich erlebe erneut die Reise meines vergangenen Lebens, aber bitte in der zweiten Klasse.
23.
    Am Tag nach meinem Besuch bei der Psychologin, nachdem ich die erste relativ ruhige Nacht seit dem Attentat verbracht hatte, beschloss ich, nicht mehr im Hotel eingeschlossen zu bleiben. Stundenlang hatte ich hin und her überlegt und wusste immer noch nicht genau, was ich von allem halten sollte. Ich fühlte mich sehr einsam, sehr verloren, und bald erkannte ich, dass ich jemanden sehen musste. Jemanden, der mich kannte, bei dem ich vielleicht meinen Realitätssinn zurückgewinnen konnte. Ich hatte immer noch nichts von meinen Eltern gehört, und ich war mir auch nicht sicher, ob ich sie im Augenblick überhaupt wiedersehen wollte. Ich beschloss also, Monsieur de Telême aufzusuchen, meinen Chef.
    Ich erledigte schnell meine Toilette und kleidete mich gut gelaunt an. Sich wieder ordentlich anzuziehen war ein erster Schritt, eine gewisse Realität zu akzeptieren. Eine Realität, in der ich rasiert, sauber und ansehbar sein musste.
    Unten im Hotel nahm ich einen Kaffee und ein Croissant zu mir. Ich versuchte, nicht auf die Stimmen der anderen Gäste zu achten. Ich musste mich auf etwas anderes konzentrieren. Ich warf einen Blick auf die Morgenzeitungen. Sie kannten nur ein Thema: das Attentat und die Spur, die zu den Islamisten führte. Man sah auch Fotos von La Défense, Helfer in den Trümmern. Meine Realität. Ich bezahlte beim Kellner und machte mich auf den Weg.
    Die Feuerberg-Gesellschaft befand sich auf der Place Denfert-Rochereau. Die Vorstellung, mich wieder unter die Erde zu begeben, verursachte mir Gänsehaut. Also nahm ich statt der Metro den Bus und fuhr oben durch Paris. Aber vor dem Bürogebäude hatte ich plötzlich ein merkwürdiges Gefühl, als ich hinter den Fenstern so viele Gestalten entdeckte. Nicht unbedingt Angst, sondern eher eine Beunruhigung. War ich bereit, alle meine Kollegen auf einmal wiederzusehen? Ich war seit mehreren Tagen verschwunden, sie würden mich mit Fragen bombardieren und mir misstrauische Blicke zuwerfen. Nein, es war noch zu früh, mich mit ihnen zu konfrontieren. Es schien mir besser, Monsieur de Telême

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