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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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allein persönlich aufzusuchen.
    Ich griff nach meinem Handy und rief in seinem Büro an. Seine Sekretärin nahm ab. Ich hatte diese Frau nie besonders gemocht. Sie redete wenig, äußerte nie ihre Meinung. Sie folgte lediglich Monsieur de Telême auf Schritt und Tritt, mit einem Heft und einem Kuli in der Hand, und gab seltsame Lacher von sich, die eigentlich keine waren.
    »Könnte ich bitte Monsieur de Telême sprechen?«
    »Er ist heute nicht da. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
    »Nein, danke«, erwiderte ich. »Ich melde mich morgen wieder.« Die Sekretärin schien einen Moment zu zögern.
    »Monsieur Ravel, sind Sie es?«
    Sie hatte mich erkannt. Sie hatte Vigo Ravel, mich, erkannt. Das war also die Realität. Feuerberg, François de Telême, die Sekretärin. Das zumindest hatte ich nicht erfunden.
    »Nein, nein«, log ich. »Danke, Madame, ich melde mich.«
    Ich schaltete das Handy sofort aus. Ich ging um den Platz herum und stöhnte. Was war ich doch für ein Dummkopf! Ich hatte für nichts und wieder nichts ganz Paris durchquert. Ich hätte nur anzurufen brauchen und nicht hierherkommen müssen. Aber das Gehen half mir, etwas klarer zu sehen. Im Augenblick hörte ich keine Stimmen in meinem Kopf. Seit dem Attentat war ich noch nie so ruhig gewesen. Jetzt, da ich schon mal hier und in guter Verfassung war, konnte ich doch das schöne Wetter nutzen und ein bisschen spazieren gehen …
    So verbrachte ich den Nachmittag damit, das 14. Arrondissement zu erkunden. Da ich noch nicht ganz beruhigt war und immer noch damit rechnete, dass die beiden Kerle wiederauftauchten, die mich verfolgt hatten, suchte ich die ruhigsten und verborgensten Plätze des Viertels auf: die Gärten am Observatorium, die Gassen an der Villa d'Alésia, den Parc Montsouris … Auf dem Rückweg, noch etwas ruhiger geworden, stellte ich fest, dass ich alte Gefühle wieder spürte: den Geisteszustand, in dem ich mich so lange befunden hatte. Ohne es mir genau erklären zu können, empfand ich wieder die Resignation, die Doktor Guillaume immer gefördert hatte. Nach und nach machte sich wieder die Gewissheit breit, dass ich schizophren war, und beinahe überzeugte ich mich davon, dass all die seltsamen Erlebnisse, die ich in den letzten Tagen hatte, lediglich Auswüchse meiner Wahnvorstellungen waren. Sicher hatte es die beiden Kerle nie gegeben, die mich verfolgten, auch die Kamera in der Wohnung meiner Eltern nicht, und der Satz, den ich im SEAM-Turm zu hören glaubte, ergab sowieso keinen Sinn. Er war keine verschlüsselte Geheimbotschaft, sondern einfach nur ein Satz ohne Sinn und Verstand, den ich ganz und gar erfunden hatte. Im Grunde war es erholsam zu wissen, dass ich schlichtweg verrückt war. Es war beruhigend und eine einfache Antwort auf all meine Fragen. Wenn ich schizophren war, gab es keinerlei Geheimnis, sondern lediglich ein paar Halluzinationen, denen ich keine Bedeutung beizumessen brauchte.
    Auf dem Boulevard Raspail bot sich ein Anblick, der mir vertraut schien. Ich blieb unsicher stehen und betrachtete die junge Frau in der Ferne etwas aufmerksamer. Der Haarschnitt, die zarte Nase, die kurzen Beine: Ja, sie war es, die Buchhalterin von Feuerberg. Unwillkürlich rief ich ihren Namen.
    »Joëlle!«
    Die junge Frau drehte sich um und wirkte überrascht, mein Gesicht zu sehen. Sie wandte den Blick ab und ging weiter, während sie ihren Schritt beschleunigte.
    Ich zögerte einen Moment, weil mich ihre Reaktion irritierte, doch dann folgte ich ihr.
    »Joëlle! Ich bin's, Vigo.«
    Sie beschleunigte ihren Schritt. Ich rannte, um sie einzuholen. Als ich sie erreicht hatte, trat ich vor sie und griff nach ihrer Schulter.
    »Was ist los?«, fragte ich verblüfft. »Erkennen Sie mich nicht?«
    Sie machte sich los, Panik im Blick.
    »Bitte, lassen Sie mich los.«
    Sie wollte weitergehen. Fassungslos ergriff ich sie erneut am Arm, dieses Mal etwas energischer.
    »Was soll der Blödsinn. Joëlle! Wir arbeiten zusammen bei Feuerberg. Ich bin Vigo Ravel.«
    »Monsieur, ich weiß nicht, was Sie meinen, ich kenne Sie nicht, lassen Sie mich in Ruhe.«
    Sie stieß mich energisch zurück und rannte auf die andere Straßenseite.
    Ich überlegte, ob es möglich war, dass ich mich getäuscht hatte, dass ich ihr Gesicht verwechselt hatte, aber ich war völlig sicher, sie erkannt zu haben, ihre Stimme, ihren Blick. Sie war es hundertprozentig. Aber warum belog sie mich? Einige Passanten starrten mich misstrauisch an, doch ich wollte nicht

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