Das Kopernikus-Syndrom
lassen.«
»Das habe ich nicht vor. Aber ich sehe, dass Sie den Begriff einweisen kennen. Ist Ihnen das schon passiert?«
Allmählich fing sie an, mir auf die Nerven zu gehen. Im Gegensatz zu dem, was ich erhofft hatte, bedachte sie mich mit einem anklagenden Blick. Vielleicht war sie auch nicht besser als Doktor Guillaume.
»Nein, niemals«, erwiderte ich trocken. »Aber ich bin auch nicht völlig plemplem. Ich habe Bücher gelesen. Ich weiß, was man darunter versteht.«
Wir ließen eine Weile verstreichen, ohne etwas zu sagen. Sie hatte ihre Augen fest auf mich geheftet. Ich glaubte, in ihrem Blick zu lesen, dass sie mir wieder Respekt zollte wie zu Beginn unserer Unterhaltung. Ich fasste wieder Vertrauen zu ihr.
»Um ehrlich zu sein, ich glaube sogar, dass ich ziemlich intelligent bin«, murmelte ich. »Ich versuche immer die Welt zu verstehen. Ich mache mir viele Notizen. Ich lese Unmengen von Büchern. Sind die Schizophrenen intelligent?«
»Im Allgemeinen haben die Patienten mit Schizophrenie einen IQ, der unter dem Durchschnitt liegt. Aber das sind lediglich Statistiken. Es ist jedoch Tatsache, dass sie mehrere intellektuelle Probleme haben, wie zum Beispiel Konzentrationsschwächen oder Sprachprobleme … Aber auch sehr intelligente Menschen können unter Schizophrenie leiden, wie dieser berühmte Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, John Nash.«
»Wie wäre es, wenn Sie mich Konzentrationstests unterziehen oder meinen IQ testen würden? Ich bin davon überzeugt, dass ich über dem Durchschnitt liege. Würde das beweisen, dass ich nicht schizophren bin?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Im Augenblick beweist das vor allem, dass Sie selbstgefällig sind«, erklärte sie mir unverfroren. »Ich schlage Ihnen Folgendes vor. Wir lassen vorerst die Frage beiseite, ob Sie schizophren sind oder nicht, und konzentrieren uns auf die Stimmen in Ihrem Kopf. Das macht Ihnen im Augenblick am meisten Probleme, und ich halte es für klüger, erst mal daran zu arbeiten. Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich kann Sie nicht zwingen. Doch diese Stimmen scheinen Sie im Alltag wirklich zu behindern. Wenn Sie tatsächlich keinen Psychiater aufsuchen wollen, was ich nicht gut finde, können wir zumindest versuchen, gemeinsam daran zu arbeiten. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen kann, aber ich glaube, Sie müssen über diesen Punkt Klarheit gewinnen.«
»Sie wollen also, dass ich wiederkomme?«
»Das haben Sie zu entscheiden.«
Ich überlegte kurz.
»Ich schaffe es nicht allein«, gab ich schließlich zu.
»Das ist völlig verständlich. Sie sagten vorhin, Sie hätten Eltern. Können sie Ihnen helfen?«
»Nein. Im Augenblick nicht. Sie sind gar nicht da.«
»Das Problem, das Ihnen zu schaffen macht, ist sehr schwer allein zu bewältigen. Aber Sie dürfen nie vergessen, dass es ein Problem ist und nicht das Ende bedeutet. Es kann vorübergehende Besserungen geben. Die Tatsache, dass Sie sich des Problems bewusst sind, ist bereits sehr positiv.«
»Ja, einverstanden, aber wenn wir die Frage nach meinen Halluzinationen von allen Seiten beleuchtet haben, werden Sie mir letztlich doch sagen, dass ich schizophren bin, und wir kehren wieder zum Ausgangspunkt zurück …«
»Ich sagte Ihnen bereits, dass ich solche Aussagen nicht mache. Und ich wiederhole es noch einmal: Lassen wir diese Probleme vorerst beiseite und konzentrieren uns ganz auf die Stimmen, die Sie hören.«
»Gut«, erwiderte ich ohne rechte Überzeugung. »Ich will es versuchen …«
»Ausgezeichnet. Dann vereinbaren wir einen Termin.«
»In Ordnung.«
Sie griff nach einem zweiten, kleineren schwarzen Heft, und jedes Mal, wenn sie eine Seite umdrehte, befeuchtete sie ihren Zeigefinger. Ich hatte den Eindruck, dass meine Mutter dieselbe Geste machte, aber es gelang mir nicht, es mir vorzustellen. Es gelang mir nicht, mir das Gesicht meiner Mutter konkret vorzustellen, wie sie genau dieselbe Mimik zeigte, und doch hatte ich das Gefühl, dass da eine Verbindung zu ihr bestand. Es war recht seltsam. Wie diese Träume, bei denen die Menschen einen Namen haben, aber kein Gesicht …
»Können Sie übermorgen wiederkommen?«
»Ja. Ich habe nichts vor.«
»Arbeiten Sie nicht, Monsieur Ravel?«
»Doch, aber im Augenblick nicht.«
»Also dann bis übermorgen um 15 Uhr.«
Ich fragte sie, was ich ihr schulde, und zahlte das Honorar sofort.
Sie lächelte mich an, erhob sich und reichte mir die Hand.
»Auf Wiedersehen, Monsieur
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