Das Kopernikus-Syndrom
aufgeben. Ich brauchte eine Erklärung und rannte ihr hinterher.
Die Buchhalterin war mir voraus, aber ich war sehr viel schneller und würde sie bald einholen. Ich sah, wie sie in eine Straße zur Rechten abbog.
»Aber Monsieur! Lassen Sie sie doch in Ruhe!«
Ein hochgewachsener blonder Mann hinter mir schien den Friedensrichter spielen zu wollen, aber ich wollte mich nicht beeindrucken lassen. Ich rannte noch schneller.
Als ich die Straßenecke erreichte, sah ich in der Ferne zwei Polizisten auf ihrem Posten. Ich fluchte. Die junge Frau rannte direkt auf sie zu. Sie würde mich anzeigen. Weswegen? Weil ich sie wiedererkannt hatte? Ich machte sofort kehrt, überwältigt von einem starken Gefühl der Ungerechtigkeit. Jetzt war ich derjenige, der verfolgt wurde, ich war also das Opfer in dieser Geschichte.
Ich stürzte auf die Kreuzung zu und stieg automatisch in einen Bus. Ich ließ das Viertel verärgert hinter mir und sah, wie sich die beiden Polizisten entfernten.
Am nächsten Tag setzte ich mich zum vereinbarten Termin vor das Büro von Sophie Zenati, Psychologin, 1. Stock links.
24.
»Wie fühlen Sie sich heute, Monsieur Ravel?«
Seltsamerweise freute ich mich, wieder bei Madame Zenati zu sein, die ich jetzt schon meine Psychologin nannte. So konnte ich sicher sein, dass sie zu mir gehörte. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich meiner annahm.
»Ich weiß nicht«, erwiderte ich und räusperte mich. »Es ist seltsam. Einerseits fühle ich mich besser, weil ich mit Ihnen geredet habe, aber andererseits ist mir seltsam zumute. Als ob ich einen langen Alptraum hinter mir hätte. Ich muss Ihnen gestehen, dass ich mich seit gestern frage, ob alles, was ich Ihnen erzählt habe, real ist. Ich schäme mich etwas, aber es ist so …«
»Wie ist es?«
»Die Geschichte mit dem Attentat. Ich habe Ihnen ja noch nicht alles gesagt. Die Wohnung meiner Eltern wurde auf den Kopf gestellt, und dann waren da zwei Kerle, die mich bis in die Katakomben verfolgten. Wenn ich jetzt daran denke, scheint mir das völlig unmöglich. Völlig irrsinnig. Ich glaube, ich habe halluziniert. Ich erkenne die Zeichen meiner Schizophrenie. Mein Verfolgungswahn, all das …«
»Ihre Schizophrenie? Sie glauben also erneut, dass Sie daran leiden?«
Ich seufzte.
»Ich weiß nicht mehr, ich habe angefangen, an allem zu zweifeln. Ich frage mich, ob ich dieses Attentat tatsächlich überlebt habe oder ob ich alles erfunden habe … Es erscheint doch auf jeden Fall unglaublich, dass ich überlebt haben soll, nicht wahr?«
»Nehmen Sie wieder Ihre Neuroleptika?«
»Nein.«
»Ich finde, Sie sollten es tun.«
»Ich hasse die Nebenwirkungen.«
»Sind sie unerträglicher als Ihre Beschwerden?«
Ich zuckte die Schultern.
»Wie soll ich es Ihnen erklären? Diese Medikamente machen einen Menschen aus mir, den ich nicht mehr im Spiegel anschauen kann. Sie schwemmen mich auf, sie machen mich völlig lethargisch, ich kann kaum die Augen offen halten, um den Menschen ins Gesicht zu sehen. Und außerdem … bin ich unfähig zu einer Erektion …«
Sie nickte und schrieb in ihr Heft. Ich stellte mir grinsend den Satz vor, den sie vermutlich notierte. Unfähig, einen hochzukriegen. Mein Leben war seltsam.
»Vielleicht können Sie sich Medikamente verschreiben lassen, die nicht dieselben Nebenwirkungen haben …«
»Ja, vielleicht …«
Einen Moment herrschte Schweigen. Ich blickte mich um. Das Büro war noch genauso unordentlich wie beim letzten Mal.
»Monsieur Ravel, ich habe Ihnen ein Buch mitgebracht, das Sie bitte lesen sollten.«
»Meinen Sie, damit ist mir geholfen?«
»Es geht um Schizophrenie. Es ist ein ausgezeichnetes Buch, klar und präzise. Der Autor Nicolas Georgieff ist ein sehr guter Psychiater. Sie sollten es lesen, dadurch können Sie Ihre Probleme besser erkennen und identifizieren. Sie werden sehen, dass sie von der modernen Medizin eindeutig anerkannt sind. Soll ich Ihnen einen Abschnitt vorlesen?«
»Aber immer …«
Die Psychologin setzte ihre Brille auf und fing an, wie eine Lehrerin vorzulesen.
»Die Wahnvorstellungen und die Halluzinationen sind zwei für die Schizophrenie typische psychotische Symptome. Die Wahnvorstellungen werden durch einen unerschütterlichen absoluten Glauben des Subjekts an die Wirklichkeit der Inhalte imaginären Denkens bestimmt. Diesen Glauben teilt es nicht mit jemand anderem. Die häufigste Wahnvorstellung ist die, verfolgt zu werden. Dabei ist das Subjekt davon überzeugt, dass
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