Das Kopernikus-Syndrom
ich.
27.
Gemeinsam überquerten wir die Straße und setzten uns auf die sonnige Terrasse. Sie nahm zuerst Platz, und ich setzte mich ungelenk ihr gegenüber. Ich war nervös, das schien sie zu amüsieren.
»Sind Sie wirklich schizophren?«, fragte sie, als sei das eine ganz normale Frage.
Zumindest nahm sie mir die Angst, denn sie fing das Gespräch an.
»Hm, ja, ich denke schon«, erwiderte ich. »Es ist im Augenblick etwas kompliziert. Wie ich Ihnen bereits sagte, habe ich angefangen, an allem zu zweifeln. Aber alles in allem, ja, grob gesehen glaube ich, dass man sagen kann, dass ich schizophren bin.«
»Ach. Und was soll das heißen? Dass Sie sich von Zeit zu Zeit für Napoleon halten, so was in der Art?«
Ich lächelte. Sie war von einer entwaffnenden Naivität, wie nur Kinder sie besitzen. Oder vielleicht lud die Ähnlichkeit unserer vermeintlichen Leiden dazu ein, sich leichter zu verbrüdern. Das war angenehm.
»Nein, beruhigen Sie sich. Ich halte mich nicht für Napoleon und auch nicht für Ramses II. Aber ich habe trotzdem ziemlich massive Probleme«, gestand ich fast voller Stolz.
»Ach ja? Welche denn?«
Ich zögerte. Das entwickelte sich zu einem Verhör. Aber schließlich hatte ich es so gewollt.
»Ich höre Stimmen.«
»Wie Johanna von Orleans?«
»Ja, wie Johanna von Orleans.«
»Gut«, sagte sie schlicht, als ob ihr diese Erklärung genügte.
Aber ich verspürte Lust, ihr mehr darüber zu erzählen.
»Manchmal habe ich den Eindruck, dass es die Gedanken von Menschen sind, die ich höre, aber in Wirklichkeit scheinen es Halluzinationen zu sein, die von meinem Gehirn erzeugt werden.«
Sie verzog mitfühlend den Mund.
»Das muss sehr … lästig sein.«
»Ja«, räumte ich ein. »Ich mache eine besonders schwierige Zeit durch.«
»Ich kann es mir denken«, sagte sie und nickte. »Aber sollten Sie mit diesem Problem nicht lieber einen Psychiater aufsuchen?«
»Mmh … Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte einen, aber seit dem Attentat vom 8. August habe ich ihn nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich glaube, dass ich zum Zeitpunkt der Explosionen dort war. Seither ist mein Leben vollkommen in Unordnung geraten.«
In diesem Moment trat der Kellner an unseren Tisch. Er trug eine schwarzweiße Uniform.
»Guten Tag, die Herrschaften.«
Agnès nickte freundlich. Sie befand sich auf bekanntem Terrain.
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Einen Kaffee«, bestellte die junge Frau.
»Zwei«, fügte ich hinzu.
»Zwei Kaffee«, rief der Ober, bevor er hineinging.
Ich betrachtete ihn grinsend. Diese menschlichen Karikaturen hatten für mich etwas Beruhigendes. Die Klischees waren unwiderlegbare Beweise des Realen.
»Und Sie?«, fragte ich und zog meinen Stuhl an den Tisch. »Was gibt es für Gründe für Ihre … leichte Depression?«
Ich sah, wie sie die Stirn runzelte. Sie hatte wieder das zarte Gesicht, das ich im Warteraum gesehen hatte.
»Nichts Schlimmes. Ich bin ein bisschen zyklothym, als Mädchen. Und dann … Die Erschöpfung, all die kleine Probleme in der Ehe, all das … Und dann … Ich bin berufstätig … das ist schwierig. Ein stressiger Beruf. In meinem Beruf kommt diese Art kleiner Depressionen häufig vor.«
Lehrerin. Ich war davon überzeugt, dass sie Lehrerin war. Ich hatte in ihrem Blick diese Abgespanntheit erkannt, diese Desillusioniertheit, der nachzugeben sie sich jedoch weigerte. Sie hatte bestimmt eine Stelle in einem schwierigen Viertel, in einem vorrangigen Bildungsbereich, wie es so schön heißt. Einem dieser modernen Ghettos, die sich die Welt selbst konstruiert. Für die Schizophrenen hatte man die Einweisung erfunden, für die Slums die vorrangige Bildung. Zumindest fühlte ich mich weniger allein.
»Und was ist vor allem schiefgegangen?«, erkundigte ich mich. »Ihr Job oder Ihre Ehe?«
Sie schwieg verblüfft. Ich beharrte. »Ihre Ehe hat sich wegen Ihrer Probleme im Job verschlechtert, oder ertragen Sie Ihren Job nicht mehr, weil es zu Hause schlecht läuft?«
Sie seufzte.
»Sie reden wirklich nicht lange um den heißen Brei rum. Tut mir leid, Vigo, aber das ist nicht die Art Unterhaltung, die ich mir vorgestellt habe, als ich mit Ihnen hierhergekommen bin.«
»Moment, ich habe Ihnen erzählt, dass ich Stimmen in meinem Kopf höre. Und Sie haben Angst, sich zu öffnen? Das ist nicht gerade gerecht.«
»Es liegt nicht daran, dass ich Angst habe, mich zu öffnen, sondern ich habe einfach keine Lust, darüber zu
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