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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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grünen Bank in Paris. Ich fühlte mich wohl, eingehüllt in das Brummen der Autos und die Launen des Windes. All meine Sinne wurden durch die Fülle des Sommers in der Stadt befriedigt. Ich merkte das Verstreichen der Zeit nicht, aber spürte bald die sengende Sonne auf meinen Wangen und meiner Stirn.
    Meine Gedanken wanderten zu der jungen Frau im Warteraum. Was war mit mir los? War ich im Begriff, Anziehungskraft zu spüren? Wurden so die Männer von der geheimnisvollen Liebe auf den ersten Blick getroffen? Nein, sicher nicht. Die Liebe war vermutlich viel komplizierter. Man hatte so viele Bücher darüber geschrieben, so viele Lieder gesungen. Na und? Was wollte ich von dieser Frau, über die ich nichts wusste?
    Vielleicht verspürte ich das Bedürfnis, mich weniger einsam zu fühlen. Denn zumindest eines hatten wir gemeinsam: das kleine unordentliche Büro im ersten Stock, seine Vertraulichkeiten und Geheimnisse. Ja, ich hatte vermutlich das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, der diese eigenartige Realität dort oben mit mir teilte, die Realität unserer Psychosen und Neurosen, unserer Bekenntnisse. Denn ungeachtet meiner Worte gegenüber der Psychologin begeisterte mich die Idee, mit meinen Eltern zu reden, nicht besonders. Dagegen erschien mir die Vorstellung, den Realitätssinn wiederzufinden, indem ich eher mit ihr als mit meinen Eltern sprach, verlockend.
    Meine Eltern … Trotz allem mussten wir eines Tages wieder Kontakt aufnehmen. Und was, wenn sie zurückgekehrt waren? Vielleicht befanden sie sich in diesem Augenblick in der Rue Miromesnil. Hatten sie die Wohnung so vorgefunden, wie ich sie verlassen hatte? Verwüstet von den Einbrechern?
    Ich musste es wissen. Ich griff nach meinem Handy und wollte die Telefonnummer unserer Wohnung wählen. Als ich meine Finger der Tastatur näherte, wurde ich mir schlagartig bewusst, dass ich die Nummer vergessen hatte. Ich suchte vergeblich in meinem Gehirn, versuchte Zahlenkombinationen, nichts fiel mir ein. Also beschloss ich, in meiner Telefonliste zu suchen. Sie war leer. Hatte ich nie Nummern eingetragen? Ich konnte es unmöglich sagen. Etwas verstört beschloss ich, die Auskunft anzurufen.
    Ein Mitarbeiter begrüßte mich mit der besonders zuvorkommenden Art der privaten Telefonauskünfte.
    »Guten Tag«, erwiderte ich, »ich hätte gern die Telefonnummer von Monsieur Ravel in der Rue Miromesnil 132.«
    »In welcher Stadt?«
    »Nun, in Paris.«
    »Arrondissement?«
    »Im 8.«
    »Bitte, haben Sie einen Augenblick Geduld, die Nummer wird gleich angesagt.«
    Ich wartete, den Blick gesenkt, und zündete eine Zigarette an.
    »Monsieur«, hörte ich erneut den Telefonisten, »es gibt in der Rue Miromesnil keinen Teilnehmer dieses Namens.«
    »Wie bitte?«, rief ich.
    »Es gibt im 8. Pariser Arrondissement in der Rue Miromesnil keinen Monsieur Ravel. Soll ich es mit einer anderen Schreibweise versuchen?«
    »Nein, er heißt Ravel, wie der Komponist.«
    »Tut mir leid, aber es gibt niemanden mit diesem Namen.«
    »Nun gut«, stotterte ich. »Danke.«
    »Ich danke Ihnen, Monsieur. Einen schönen Tag.«
    Und er legte auf.
    Ich stand da mit offenem Mund. Ich brauchte eine Ewigkeit, bis ich beschloss, das Telefon von meinem Ohr zu nehmen.
    Es gibt dort niemanden mit diesem Namen, Monsieur. Es gibt keinen Monsieur Ravel.
    Ich hatte nicht die Zeit, die Folgen dieses mörderischen Satzes zu ermessen. Plötzlich tauchte die junge Frau aus dem Warteraum hinter der großen Flügeltür des Gebäudes auf.
    Ich sprang unwillkürlich auf. Hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, sie zu sehen, dem Wunsch, zu fliehen, und der Angst, die in mir schwelte, nachzugeben, blieb ich einen Moment lang stehen und fühlte mich wie ein Trottel.
    Ich betrachtete sie verblüfft. Sie war in den Schatten getaucht, und ihr Gesicht wurde von einem Sonnenstrahl erhellt. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, erblickte sie mich und sah mich erstaunt an.
    Es war zu spät, um so zu tun, als hätte ich nicht auf sie gewartet. Ich ging ein paar Schritte auf sie zu, mein Gesicht war bestimmt bleich und mitgenommen.
    »Sind Sie immer noch da?«, sagte sie trocken.
    »Hm, ja«, erwiderte ich töricht.
    »Worauf warten Sie?«
    Ich zögerte. Ich hätte ihr vorgaukeln können, dass ich noch mal hoch zur Psychologin wollte. Im Übrigen war mir nach dem Schock, den ich gerade erlitten hatte – es gibt niemanden mit diesem Namen, Monsieur –, der Gedanke gar nicht so unangenehm.
    Ich weiß nicht, welcher

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