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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Kaffee ist nicht sehr gut, nicht wahr?«, sagte Agnès und beugte sich zu mir vor.
    Ich starrte in meine Tasse. Der Kaffeesatz war voller kleiner schwarzer Körner. Ich hatte einige geschluckt, sie waren sehr bitter. Aber nicht deshalb zitterte ich. Ich zögerte, ihr die Wahrheit zu sagen. Agnès, ich glaube, ich habe Ihre Gedanken gehört. Schließlich entschied ich, dass es nicht immer gut ist, alle Wahrheiten auszusprechen.
    »Nein, er ist nicht besonders gut«, gab ich zu.
    »Und doch komme ich fast jedes Mal, wenn ich zur Zenati gehe, wieder hierher. Das ist merkwürdig, oder?«
    »Pah, man gewöhnt sich an alles.«
    »Vielleicht. Ich habe eine ärgerliche Neigung, mich an alles zu gewöhnen, was nicht gut ist. Zum Beispiel: Rauchen Sie?«
    »Wie ein Schlot«, sagte ich und zog meine Camel aus der Tasche.
    Sie kramte in ihrer Tasche und holte ebenfalls eine Schachtel Zigaretten heraus. Ich lächelte. Unwillkürlich musste ich sie anstarren. Ihren kurzen Herrenhaarschnitt, ihre tiefgründigen Augen, ihre sonnengebräunte Haut. Etwas an ihrer Haltung ging mir unter die Haut. Ihre Stimme und ihre Gesten zeugten von einer sicheren Kraft, die sie unantastbar, ja unfehlbar erscheinen ließ. Doch ihre Behandlung durch die Psychologin und etwas in ihrem Blick verrieten die Zerbrechlichkeit dahinter.
    »Dieses Laster bringt uns noch ins Grab«, sagte sie und zündete sich eine Zigarette an.
    »An irgendwas muss man ja sterben.«
    »Ja … Das sagt man, um die Wahrheit zu verschleiern, nicht wahr? Nun, Vigo, nach diesen schönen Worten muss ich jetzt gehen.«
    Sie legte ein paar Münzen auf den Tisch und schob ihren Stuhl zurück.
    »Ich hoffe, ich habe Sie mit meinen Geschichten über auditive Halluzinationen nicht zu sehr erschreckt«, fragte ich mit einem leicht dümmlichen Blick.
    Der Gedanke, dass ich ihr nicht gefallen hatte, dass ich ihr zu schnell die nackte Wahrheit meiner Schizophrenie enthüllt hatte, versetzte mich in Panik.
    »Keineswegs, Vigo. Wenn ich Ihnen alles erzählen würde, was in meinem Kopf vorgeht, dann würden vielleicht Sie sich fürchten. Aber ich muss jetzt wirklich gehen. Ich habe es Ihnen schon gesagt, ich werde erwartet. Wir sehen uns.«
    Ohne zu überlegen, griff ich nach ihrer Hand.
    »Könnten wir vielleicht unsere Telefonnummern austauschen?«, fragte ich schüchtern.
    »Wofür?«
    »Ich weiß nicht. Wenn es Ihnen irgendwann schlechtgeht, können Sie mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen.«
    »Ach ja? Sie mich aber nicht!«, erwiderte sie und lächelte. »Ich schlafe nachts, und mein Mann würde es vermutlich nicht sehr lustig finden.«
    Trotzdem holte sie ihr Handy aus der Tasche.
    »Also, ich höre.«
    Sie notierte meine Nummer, dann gab sie mir ihre. Ich trug sie in mein leeres Verzeichnis ein.
    Sie erhob sich, und ohne dass ich darauf gefasst gewesen wäre, noch weniger es gehofft hatte, küsste sie mich auf die Wange. Dann schenkte sie mir ein letztes Lächeln und entfernte sich schnell. Ich sah ihr hinterher, wie sie aufrecht und leichtfüßig die Straße überquerte und verschwand.
    Ich strich mit der Handfläche über meine Wange, um mich zu vergewissern, dass dieser Kuss real war. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit meinen Händen zu. Sie zitterten. Ich ballte die Fäuste, um die lächerlichen Zuckungen zu vertreiben, aber meine Herzschläge waren nicht unter Kontrolle zu bekommen. Sie wurden immer schneller. Ungläubig schloss ich die Augen. War das möglich? War ich im Begriff, das zu fühlen, was ich nie gefühlt hatte? Hier plötzlich, unter dieser Sommersonne, mitten in einer Woche, die mein Verständnis überstieg. Die Liebe? Ohne Warnung? Wie ein Regenschauer an einem Sommertag, unerwartet und erfrischend?
    Die Erinnerung an ihren Mund haftete noch lange wie eine Liebkosung auf meiner Wange. Ich sprang auf und stürzte mich in das Getümmel der Stadt.
28.
    Ich glaube, auf dem Rückweg habe ich zwei- oder dreimal schallend gelacht. Die Menschen, denen ich begegnete, hielten mich sicher für einen Irren. Es war mir egal, schließlich war ich einer.
    Ich hatte den Eindruck, fünfzehn zu sein, dabei war ich nie fünfzehn gewesen. Ich hatte den Eindruck, dass nichts mehr von Bedeutung war, außer Agnès, deren Name mich umgab, blinzelte, sich in einen Engel verwandelte und den ganzen Himmel mit seinen Flügeln aus Federn füllte. Verliebt. Wie leicht doch diese zwei Silben waren. Wie sehr sie die sinnliche Süße des Verbotenen besaßen.
    Bravo, Vigo, du verliebst dich

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