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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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reden.«
    »Aha. Sie wollen lieber über das Wetter reden? Tut mir leid, ich glaube, das beherrsche ich nicht.«
    Sie lächelte.
    »Nein, nein, beruhigen Sie sich. Auch ich liebe die Aufrichtigkeit.«
    »Den Eindruck hatte ich zumindest von Ihnen«, sagte ich und schaute sie ermutigend an. »Im Übrigen finde ich Ihre Art, unverblümt Fragen zu stellen, sehr gut. Damit spart man enorm viel Zeit.«
    Sie nickte. »Ja, Offenheit ist gut. Aber man kann nicht immer über alles so direkt reden.«
    »Sie haben recht. Ich bin ein Angsthase, also neige ich dazu, etwas zu schnell zum Wesentlichen zu kommen. Das muss wohl an der Schizophrenie liegen. Wenn man Angst hat zu sterben, hat man auch Angst, Zeit zu verlieren.«
    »Haben Sie Angst zu sterben?«, fragte sie erstaunt.
    »Sie nicht?«
    Sie verzog den Mund und zögerte.
    »Die Zenati würde eher sagen, ich habe Angst zu leben.«
    »Sie sehen, das läuft wieder auf Ihre Depression hinaus.«
    »Ja. Aber man muss mich verstehen. Ich hab mir gerade eine Stunde mit unserer verehrten Psychologin reingezogen, das reicht mir für heute.«
    Ich nickte. Der Ober brachte uns unseren Kaffee.
    »Haben Sie das Chaos in ihrem Büro bemerkt?«, fragte ich in vertraulichem Ton. »Merkwürdig, nicht wahr? Eine Psychologin, die nicht aufräumt.«
    Sie lächelte.
    »Ja«, erwiderte sie. »Oder vielleicht ist es ein psychologischer Trick. Die Unordnung ist für die Patienten sicher weniger bedrückend als die Ordnung. Das soll bestimmt Vertrautheit fördern.«
    »Glauben Sie? Ich glaube einfach, dass sie chaotisch ist.«
    Die junge Frau griff lachend nach ihrer Tasse und trank einen Schluck. In diesem Moment fand ich sie – ohne zu wissen, warum, wie ein Flash – schön. Richtig schön.
    Bisher hatte sie mich fasziniert, erstaunt. Doch in der Flüchtigkeit dieser schlichten Geste, in der willkürlichen Ewigkeit dieser Sekunde fand ich sie großartig. Eine traurige Zärtlichkeit zog über ihr zartes Gesicht, und ihre grünen Augen sahen so sanft aus. Sie gehörte zu den Schönsten der Schönen, eine Schönheit, die sich erst langsam und behutsam erschließt.
    Als sie die kleine weiße Tasse auf den Tisch zurückstellte, sah ich wohl ziemlich verblüfft aus.
    »Was ist los?«, fragte sie stirnrunzelnd.
    »Sie … Sie sind sehr schön, Agnès.«
    Sie starrte mich erstaunt an.
    »Was soll denn das jetzt?«
    Ich wurde mir bewusst, was ich gerade gesagt hatte. Und ich rieb mir verlegen die Wange.
    »Entschuldigen Sie. Ich habe das nicht gesagt, um Ihnen den Hof zu machen, das schwöre ich Ihnen! Es ist nur, dass ich Sie in diesem Augenblick wirklich richtig schön gefunden habe, während Sie vorher etwas streng wirkten.«
    Sie prustete los.
    »Wie auch immer, Vigo, Sie müssen unbedingt Fortschritte in Ihrer Kommunikationsfähigkeit mit anderen machen.«
    »Ich … Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, was mir durch den Kopf gegangen ist.«
    »Das ist nicht schlimm, sondern sehr nett, aufrichtig. Nehmen wir an, dass es Ihre Todesangst ist, die Sie all das aussprechen lässt, was Ihnen durch den Kopf geht.«
    Sie trank wieder einen Schluck Kaffee. Ich tat es ihr nach.
    Als ich meine Tasse wieder auf den Tisch stellte, spürte ich, wie sich in meinem Kopf ein charakteristischer Schmerz ausbreitete. Meine Migräne, diese Migräne. Nein! Nicht jetzt! Aber ich konnte nichts dagegen tun, das wusste ich genau. Meine Hände fingen an zu zittern. Ich legte sie auf den Tisch, um sie zu beruhigen. Agnès beobachtete mich. Ich tat alles, um den Anfall zu verbergen, der sich in mir aufbaute. Aber bald trübte sich mein Sehvermögen, und die Bilder vor mir begannen sich zu verdoppeln. Die Farben und die Formen verschwammen. Agnès' Gesicht verdoppelte sich, wie die Welt hinter ihr. Ich blinzelte.
    Dieser Typ ist echt seltsam. Manchmal wirkt er völlig schwachsinnig. Aber er ist lustig. Er ist nicht wirklich gutaussehend, aber er hat sehr schöne Augen. Wie die meines Onkels …
    Ich zuckte zusammen. Das war ihre Stimme. Agnès' Stimme in meinem Kopf. Ich hätte es beschwören können. Aber nein! Nein, ich musste mich zusammenreißen. Das war nur eine Halluzination. Eine auditive Halluzination, nichts Besonderes für einen Schizophrenen meines Kalibers. Ich durfte nicht darauf achten. Ich durfte nicht zulassen, dass der Wahnsinn die Oberhand gewann.
    Mit zitternder Hand griff ich nach meiner Tasse und trank sie leer. Der Anfall ebbte langsam ab und damit das Gemurmel in meinem Kopf.
    »Sie zittern. Der

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