Das Krähenweib
Geschäftig eilten die Menschen an ihr vorbei. Kaum jemand nahm von ihr Notiz, denn sie mussten auf den Boden unter sich achten, der vom letzten Frühlingsregen durchnässt war und auf dem man leicht ausrutschen konnte.
Auch Annalena hatte Mühe, den Pfützen auszuweichen, und selbst die Holzpantinen bewahrten sie in dieser Jahreszeit nicht davor, sich die Füße schmutzig zu machen.
Ein paar Hunde, denen es egal war, wie ihre Pfoten und ihr Fell aussahen, jagten bellend einer Katze hinterher, die versuchte, sich über einen Zaun in Sicherheit zu bringen. Vom Marktplatz her tönte Hühnergegacker, Ziegenmeckern und das Quieken der Schweine, das sich mit dem Geplapper der Leute und dem Geschrei der Händler mischte.
»Krähenweib, Krähenweib, Lumpen hängen an deinem Leib!«, riefen ein paar Kinder unvermittelt von der Seite.
Die Worte versetzten Annalena einen Stich. An die Beleidigungen der Erwachsenen war sie gewohnt, doch wenn Kinder ihr Schimpfworte nachriefen, schmerzte es immer wieder furchtbar.
»Krähenweib, Krähenweib …«, sangen sie weiter.
Es sind nur dumme Bälger, deren Rufe du nicht zu beachten brauchst, versuchte sie sich zu beruhigen.
Dann ertönte ein zischendes Geräusch und plötzlich traf sie etwas an der Schläfe. Sterne explodierten vor ihren Augen. Der Schmerz durchzuckte ihre rechte Gesichtshälfte und ließ sie taumeln. Dabei stieg ihr der Geruch von fauligen Äpfeln in die Nase.
Die anderen Stadtbewohner taten natürlich so, als hätten sie nichts gesehen. Wäre eine Bürgersfrau beworfen worden, hätte jemand den Strolchen sicher Prügel angedroht. Der Frau eines Henkersknechts hingegen half niemand.
Während sich Annalena an eine Hauswand lehnte und wartete, bis sie wieder klar sehen konnte, vernahm sie das schrille Lachen der Kinder.
Wut und Enttäuschung tobten in ihr.
Als das Flackern aufhörte und sie den Kopf zur Seite wandte, erblickte sie den Sohn des Tuchmachers Friedrichs. Er holte gerade zu einem weiteren Wurf aus, doch ihr Blick ließ ihn erstarren. Augenblicklich verebbte das Lachen der Meute und einer der Freunde des kleinen Rüpels rief: »Verschwinden wir, bevor sie uns verhext.« Sogleich verschwanden die Lausebengel lärmend in einer Gasse.
Annalena atmete erleichtert auf. An der Stelle, wo sie der Apfel getroffen hatte, würde gewiss ein blauer Fleck erscheinen, aber sie konnte ihr Haar und ihre Haube darüberstreifen. Außerdem machte es ohnehin keinen Unterschied: Es war nicht ihre einzige Wunde und den Leuten war es egal, wie sie aussah. Krähenweib blieb Krähenweib für sie.
Endlich am Marktplatz angekommen, fiel ihr das Blutgerüst für die heute stattfindende Hinrichtung ins Auge. Obwohl sie ihn gewohnt war, ließ der Anblick sie erschauern. Rasch wandte sie sich den Marktständen zu, vor denen sich die Menschen drängten.
Die meisten waren allerdings hier, um sich die Hinrichtung anzusehen. Annalena kam nur schwerlich in der Menschenmenge voran und es dauerte lange, bis sie endlich an der Reihe war. Die besten Stücke waren natürlich weg, aber schlechtere Ware war auch billiger.
Als die Kirchenglocke zehn schlug, wurde es plötzlich still auf dem Marktplatz. So still, dass man schwerfälligen Hufschlag und Räderquietschen hören konnte. Annalena wusste, was das bedeutete. Die Richter und Meister Hans, der Henker von Walsrode, rückten mit ihrem Gefolge an.
Die Menschen machten Platz für den abgezehrt wirkenden Gefangenen, der auf einem Karren vor den Richtblock gefahren wurde. Nun musste er die Urfehde schwören. Annalena glaubte zwar nicht, dass seine Unterschrift wirklich etwas bewirkte, aber es gab ihr doch ein sicheres Gefühl, dass alle Verurteilten ein Papier unterzeichneten, in dem sie versicherten, dass ihre Angehörigen sich nicht am Henker und dessen Familie rächen würden.
Als er seine drei Kreuze gemacht hatte, wurde er von den Gesellen zum Richtblock gebracht und auf die Knie gezwungen. Schmährufe wurden laut, Äpfel, Kohl und Eier flogen. Nachdem der Richter nach altem Brauch den Stab über dem Mörder gebrochen und damit erklärt hatte, dass das Urteil rechtsgültig war, überprüfte Meister Hans noch einmal die halbmondförmige Klinge seines Beils.
Annalena beobachtete das Treiben mit gemischten Gefühlen. Sie wusste, dass die Verurteilten ihre Strafe verdient hatten. Dennoch krampfte sich ihr Magen zusammen, wenn sie an das Blut und das Geräusch des fallenden Kopfes dachte. Manche Gefangenen schrien furchtbar, wenn der
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