Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
war alles, was sich darinnen abgespielt hatte, vergessen.
Von Fort William fuhren sie noch einige Kilometer in nordwestlicher Richtung bis Corpach, von wo aus man bei gutem Wetter den Gipfel des Berges sehen konnte. Doch heute lag die Spitze des Ben Nevis – wie an 300 weiteren Tagen des Jahres – in dichten Nebel gehüllt, was Francis und Iain aber in keiner Weise von ihrer geplanten Besteigung abbringen konnte. Für Francis würde es die erste werden, doch Iain war schon als kleiner Junge mit seinen Eltern zweimal hier heraufgefahren in die westlichen Highlands und hatte den Berg beide Male bezwungen. Damals hatten seine Eltern die „Tourist Route“ für eine Besteigung gewählt. Aber er würde mit Francis über den benachbarten Carn mor Dearg wandern, da diese Alternativroute noch um einiges reizvoller war, wenn man den Berichten von Bekannten aus Dundee Glauben schenken konnte.
Der Aufstieg ließ sich recht zügig an, obschon sie weder unter Zeitdruck standen, noch es ihnen so vorkam, als beeilten sie sich besonders. Die Sonne brannte dank eines bewölkten Himmels und des Hochnebels nicht auf sie herab, sandte aber hier und da ihre einzelnen Strahlen und Strahlenbündel, welche das Dickicht aus Wolken am Himmel, gleichsam wie in hoffnungsvoller Zuversicht, durchbrachen. Sie waren schon etwa die Hälfte des Weges gegangen, da setzte ein leichter Nieselregen ein, aber die beiden zuckten nicht einmal mit der Wimper, geschweige denn, daß sie einen Gedanken an Umkehr verschwendet hätten. Gutes, schottisches Wetter, dachte Iain, und ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht. Er nahm Francis bei der Hand, zog sie zu sich und küßte sie. Diese erwiderte den Kuß und fragte, nachdem sie sich aus der liebevollen Umklammerung gelöst hatte: „Wofür war das denn?“
„Brauche ich dazu einen Grund? Mir war danach…“
Sie lachte, und ihre großen Augen leuchteten. Hand in Hand ging es weiter hinauf und immer weiter und weiter, bis sie an eine Ruine kamen, welche den Gipfel zu markieren schien. „Ist die alte Wetterwarte,“ sagte Iain, „die stammt aus dem 19. Jahrhundert und war nur zwei Jahrzehnte in Betrieb.“
„Woher weißt Du das, Iain?“ hörte man Francis fragen. „Du vergißt, daß ich schon zweimal hier war, Liebling“, gab ihr MacGregor zur Antwort. „Außerdem habe ich, es bevor wir losgefahren sind, im Internet gelesen.“ Er grinste bei diesen Worten. Francis mußte ebenfalls lächeln. Dann sagte sie sanft: „Es ist doch immer dasselbe, Du bist eben ein unverbesserlicher Klugscheißer.“
Sie verweilten eine Zeitlang auf dem Gipfel des Berges, verzehrten die Brote, welche Francis geschmiert hatte, und erfrischten sich an dem Wasser, das sie mit sich führten und an jenem, welches von oben kam. Am frühen Nachmittag begannen sie mit dem Abstieg. Dabei pflückte Miss Boyle eine schön gewachsene Distel am Wegesrand, die sie in den Rucksack steckte, dabei ihren Freund bedeutungsvoll ansehend: „Die nehmen wir mit nach Neuseeland!“ „Ist gut,“ dachte Iain, „eine schottische Distel als Erinnerung an dieses wundervolle Land mit seinen Bergen, seinen Tälern und Seen, das die Römer niemals eingenommen hatten.“ Denn die Legionen Roms waren nur bis zum Hadrianswall und zeitweilig bis zum Antoniuswall vorgedrungen, nicht einmal aber ins schottische Hochland.
Und jetzt waren sie überrannt worden, nicht von einem feindlichen Heer in Waffen, gegen das sie sich hätten verteidigen können, aber gleichwohl von einem riesigen Heer an Fremden, deren schärfste Waffen ihre zahlenmäßige Stärke und ihre Intoleranz waren. Sie selbst dagegen waren über Jahrzehnte hin viel zu tolerant gewesen und hatten überdies freiwillig die Grenzen geöffnet und ihren Geburtenquell verstopft. Mit Wehmut mußte Iain jetzt an den bevorstehenden Abschied von ihrem Vaterland denken, das gänzlich in die Hände dieses Gesindels fallen würde. Aber der Entschluß war gefaßt.
Die Nacht verbrachten sie in einer nahgelegenen Herberge bei Fort William und fuhren erst tags darauf wieder nach Glasgow zurück, um die letzten Wochen bis zu ihrem Aufbruch im gewöhnlichen Alltagstrott zu verleben.
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Bei den Bühlers in Niefern herrschte an diesem Abend das totale Chaos. Lucretia-Amalia, die sechzehnjährige Tochter, durfte unter keinen Umständen zu spät zu ihrem Auftritt mit dem Orchester kommen. Sie hatte schließlich monatelang fleißig auf der Geige geübt – sehr zum Leidwesen ihres
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