Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
Bruders, der eine Abneigung gegen klassische Musik und Mathematik zu haben schien, was er auch offen eingestand. Das Problem war nun folgendermaßen gestrickt: die Mutter, Luise, konnte sie nicht fahren, da sie keinen Führerschein besaß, Erik war mit der Schäferhündin Stella außer Haus und nicht auf seinem Mobiltelefon erreichbar, und der Vater, welcher eigentlich mit dieser Aufgabe betraut gewesen war, hatte kurzfristig für zwei ausgefallene Kollegen die Bereitschaft übernehmen müssen und war prompt zu einem Einsatz gerufen worden, so daß das Auto der Bühlers ohnehin schon von ihm in Beschlag genommen wurde, um zum Feuerwehrhaus zu gelangen. Früher hatte es Piepser nur bei der Freiwilligen Feuerwehr gegeben. Aber die Brände waren nicht mehr vergleichbar mit früher, es waren in der Tat gänzlich andere Dimensionen, die jeden verfügbaren Mann und eine Unmenge an Löschmitteln erforderten.
„Nimm ein Taxi, Lucretia! Ich übernehme einen Anteil davon später. Viel Erfolg bei Deinem großen Tag. Ich finde es immer noch schade, daß ich nicht dabei sein kann, aber die Arbeit…“, rief er ihr noch zu und eilte in den Hausflur und die Treppen hinunter zu seinem Wagen, einem Peugeot aus den frühen 2020er Jahren.
Ein wenig betrübt griff das Mädchen nach einem drahtlosen Telefon, dem Haustelefon der Familie, und wählte die „444 444“. „Piep, piep, piep“ – endlich hob jemand am anderen Ende der Leitung das Telefon ab. Durch den Hörer klang die Stimme eines gestreßten Mannes: „Mietwagenzentrale Pforzheim, was kann ich für Sie tun?“
„Schönen Guten Abend, hier Bühler, ich hätte gerne ein Mini-Car in die Schönblickstraße 23 in Niefern. Sobald es geht, bitte.“
„Unsere Fahrer sind gerade alle unterwegs, wir können auch nicht zaubern, aber ich schicke gleich einen raus, wenn einer frei wird.“
„Danke!“
„Bühler war der Name? 23, korrekt?“
„Ja, das ist richtig; Schönblickstraße in Niefern.“
„Alles klar. Schönen Abend noch, Frau Bühler!“
„Ebenso, wiederhör‘n.“ Sie legte das Telefon auf die Kommode zurück und lief zu ihrer Mutter in die Küche, die gerade dabei war, irgendeine neue Gerätschaft zum Schneiden von Gemüse auf ihre Tauglichkeit hin zu untersuchen, denn ein Händler auf dem hiesigen arabischen Markt hatte das angeblich preiswerte Küchenutensil in so überzogenem Maße angepriesen, daß die Frau nun umso mehr Verdacht gegen das Allzweckküchengerät schöpfte, je öfter sie den überstürzten Kauf Revue passieren ließ. Und siehe da: es taugte wenig…
Auch Luise konnte ihre Tochter nicht begleiten, denn sie war an diesem Abend zu der Geburtstagsfeier einer älteren Dame des Ortes eingeladen, mit welcher sie, wie es in Dörfern zumindest früher üblich war, in einem komplizierten verwandtschaftlichen Verhältnis stand. Zudem hatte sie schon länger zugestimmt, die Festrede zu halten. Genau genommen, hatte sie das bei deren letztjährigem Wiegenfest getan, also lange bevor sie auch nur ahnen konnte, daß ihre Tochter an diesem Abend einen Auftritt haben würde. Der war auch zweimal verschoben und erst vor etwa zehn Tagen auf diesen heutigen Abend festgesetzt worden, sinnierte die Mutter und tröstete sich ein wenig mit dem Gedanken, daß es nicht ihre Schuld sei. „Na, schon mächtig Lampenfieber, mein Engel?“ fragte sie ihr Kind, das nun auch bald flügge werden würde. Erik war nur noch selten zuhause. So würde es auch mit Lucretia-Amalia ablaufen. Das wäre nun mal eben der Lauf des Lebens: „Kindheit, Jugend und dann so schnell als möglich: ‚Mutti, Adieu!‘“, dachte sie und fühlte, daß es ihr Unbehagen, sogar fast Kummer bereiten könnte, ihre Tochter ziehen lassen zu müssen. „Es geht. Noch bin ich nicht so nervös, abgesehen davon, daß ich in der Nacht kaum ein Auge zugemacht habe. Aber das Lampenfieber stellt sich schon rechtzeitig ein, wenn ich auf der Bühne sitze, da bin ich sicher.“
„Ich bin wirklich stolz auf Dich – Du wirst das schon packen. Weißt Du: als ich sechzehn war, da habe ich davon geträumt, mal als Sängerin auf der Bühne zu stehen, aber daraus wurde bekanntlich nichts. Du dagegen hast Talent, und darum sollst Du heute Abend spielen und wirst – ganz ohne Zweifel – alle Anwesenden begeistern.“
„Danke, Mutter.“ Mit diesen Worten verschwand sie wieder aus der Küche und setzte ihre zierlichen Füße noch ein letztes Mal in das Badezimmer, um ihre Hochsteckfrisur vor dem
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