Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
gelben S-Bahnen und die vorbeipreschenden Langstreckenzüge, deren Fahrtwind in ihr Haar fuhr und es wild herumwirbelte. Es war kalt für einen Frühlingsabend. Als sich wieder ein größerer Zug mit schneller Fahrt jener Stelle näherte, an der das Mädchen stand, biß es sich auf die Lippen – und sprang. Die sechzehnjährige Lucretia-Amalia hatte ihrem jungen Leben damit ein Ende gesetzt, war so weit weg gegangen, wie sie nur konnte…
♦
Martin und Luise Bühler lagen ausgestreckt in ihrem Ehebett, aber es hatte wohl noch keiner der beiden in dieser Nacht Schlaf finden können. Unruhig wälzte sich mal die Frau, mal ihr Gatte auf die andere Seite, doch sprachen sie dabei kein Wort miteinander, sondern waren jeweils so ins Grübeln vertieft, daß sie das Telefon, obschon sie wach waren, nicht sofort hörten. Mozarts „Kleine Nachtmusik“, der Klingelton ihres Haustelefons, drang jedoch mit der Zeit lauter und lauter die Treppen herauf, und Stella, die treue Weggefährtin der Familie, winselte vor der Schlafzimmertüre, als ahne sie etwas, so daß Luise das Klingeln schließlich bemerkte, ihren Mann, welcher näher an der Türe schlief, etwas am Arm zupfte und flüsterte: „Martin, das Telefon – um diese Uhrzeit? Du bist doch nicht auf Bereitschaft und Dein Piepser gibt auch keinen Ton von sich. Da wird doch nichts passiert sein? Gehst Du?“ „Schon unterwegs“, gab dieser zurück, richtete sich auf, stieg in seine Pantoffeln und eilte die Treppe hinunter. Er ergriff das vibrierende Gerät gerade noch rechtzeitig, ehe es verstummte, und meldete sich: „Ja bitte? Bühler.“
Er hörte eine Weile schweigend zu, dann sagte er: „Das ist richtig, in der Notaufnahme, jawohl. Aber was ist denn geschehen um Himmelswillen? Warum rufen Sie denn um halb vier Uhr morgens an, um das abzuklären?“ Seine Mimik nahm einen immer besorgteren Ausdruck an. Dann wurde er kreidebleich. „Das ist doch nicht möglich! Gebe das Schicksal… Natürlich, ich komme sofort. Wohin sagten Sie doch gleich?“ Als er das Telefon weglegte, war er für einige Minuten so gut als geistesabwesend. Er stierte entsetzt zu dem kleinen Küchenfenster hinaus, durch welches das fahle Mondlicht fiel und die Arbeitsplatte erhellte, auf der das Telefon lag, setzte sich auf einen Stuhl, stützte den Kopf auf seine Ellenbogen, die wiederum auf den Knien ruhten, und verharrte kurz in dieser Position.
Als er sich etwas gesammelt hatte, stieg er langsam die Stufen zum Schlafzimmer empor, blieb jedoch auf der Türschwelle stehen, von wo aus er seiner Frau, die ihn aufrecht im Bett sitzend erwartete, zu verstehen gab, sie solle aufstehen und sich fertigmachen. Als sie hernach neben ihm stand, immer noch nicht ahnend, was sich ereignet hatte, wenngleich sie wußte, daß dies alles nichts Gutes zu bedeuten haben konnte, ergriff er ihre Hände und sagte, wiewohl kaum des Sprechens fähig: „Sie haben eine junge Frau gefunden, die sich vor einen Zug geworfen hat…“ Nun, nach diesen Worten Martins, zeigte sich auch im Angesicht der Mutter das blanke Entsetzen. Er rang mit seiner Fassung und fuhr fort: „Da sie einen Kittel des Krankenhauses trug, in das Lucretia gestern eingeliefert wurde und diese dort vermißt wird, vermutet die Polizei, daß es sich bei der Frau vielleicht… vielleicht um unsere Tochter handeln könnte.“ Nach einer weiteren Pause, in der er Luise in die Arme schloß, fügte er hinzu: „Wir sollen hinfahren und die Leiche identifizieren, falls es so ist, was die Vorsehung verhüten möge. Du mußt aber nicht mitkommen, ich mache das auch alleine, wenn Du möchtest.“ Seine Frau verneinte; sie würde mitkommen, sie sei schließlich die Mutter – und trotz des verbleibenden Hoffnungsschimmers, es könnte sich um einen Zufall handeln, weinte sie bitterlich, als sie so sprach.
Es war kein Zufall. Von einem Polizisten wurde die Plane etwas aufgedeckt, um das Gesicht der Verstorbenen offenzulegen. Die Nerven der Bühlers, die bis zu diesem furchtbaren Augenblick wie Drahtseile gespannt gewesen waren, zerbarsten mit einem Mal. Die Frau brach weinend zusammen, und der Mann erstarrte förmlich, wirkte beinahe wie versteinert und nickte leicht, um den Beamten damit zu bedeuten, daß es sich bei der Toten tatsächlich um ihre Tochter handelte. In sein Gesicht kam aber rasch wieder Leben. Auf seinem Antlitz zeigte sich schnell neben dem Schmerz noch andere Empfindungen: Haß und Wut.
Haß in erster Linie auf jene üblen Subjekte,
Weitere Kostenlose Bücher