Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
die an Lucretia-Amalias Selbstmord die eigentliche Schuld trugen, auf jene nämlich, die sie geschändet hatten. Wut fühlte er jedoch auch auf das Personal des Hospitals, in welchem sie das Mädchen sicher gewähnt hatten. Wie konnte eine Patientin einfach so aus einer Notaufnahme verschwinden, ohne dabei von jemandem bemerkt zu werden? Diese Frage würde er sich auch künftig immer wieder stellen, doch eigentlich wußte er die Antwort. Der Kittel zeigte, daß Lucretia sich bemüht hatte, ungesehen hinauszugelangen. Er wußte auch, daß, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, sie dieses Vorhaben unbedingt durchzog, was letztlich ihr konsequenter Freitod mehr als bewies. Sie hatte – und das erfüllte den Vater mit Stolz – wahrhaft Charakter besessen. Ihr Scheiden von dieser Welt mutete in der Tat heroisch an, wenn man das Motiv bedachte.
Der Beamte, welcher die Plane aufgedeckt hatte, berichtete den Bühlers von der Unfallstelle. Er sagte ihnen, daß kaum etwas außer dem Gesicht und Teilen des Rumpfes heil geblieben war, sie daher mit größter Wahrscheinlichkeit auch keine Schmerzen gespürt habe, sondern alles ganz schnell gegangen sei, was die Eltern über ihren großen Verlust freilich nur wenig hinwegzutrösten vermochte.
Kapitel III
Es war der 12. Mai 2033 und gerade drei Tage her, daß sich Lucretia-Amalia das Leben genommen hatte. Morgen sollte ihre Beerdigung stattfinden, auf welcher Martin Bühler selbst die Grabrede halten würde, da es seiner Ansicht nach keines Pfaffen bedurfte, der seine Tochter nur vom Sehen gekannt hatte – wenn überhaupt –, um über sie zu sprechen. Es war eine Form von scheinbarer Normalität in das Familienleben der Bühlers zurückgekehrt, denn Tränen und lautes Wehklagen währten bei ihnen nur kurz, ehrliche Trauer und tiefer Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen dagegen sehr lange.
Martin saß in der Stube und hatte den Fernsehapparat eingeschaltet, um sich die Nachrichten anzusehen: neben den üblichen Meldungen von Straßenschlachten und Plünderungen sowie Großbränden in jedweden Ballungsräumen Europas und Nordamerikas erfuhr man auch von der Bundesfamilienministerin Ngozi Obasanjo-Ngambe, daß die deutsche Geburtenrate überaschenderweise auf über 2,1 Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter angestiegen war. „Wer hätte das gedacht!“ rief der Mann wutentbrannt aus, so daß die Hündin, die er während der ganzen Zeit gekrault hatte, erschrocken zusammenfuhr, sich aber gleich wieder an sein Bein schmiegte, denn er wußte auf welchen Faktor dieser Anstieg der Geburtenrate zurückzuführen war. Obasanjo-Ngambe, die bundesdeutsche Familienministerin, war nigerianischer Abstammung und selbst achtfache Mutter, wobei sie das letzte Mal Drillinge geworfen hatte.
Mehrlinge, eineiige Zwillinge ausgenommen, kamen besonders häufig bei der negriden Bevölkerung vor, das war evident. Sie waren auch jener Teil der Gesellschaft, welcher seit eh und je an Verhütung keinen Gedanken verschwendete, was aus vielen älteren Umfragen und Statistiken hervorging, auf welche Herr Bühler zurückgreifen mußte, wenn er sich mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigte, denn seit den frühen 2020er Jahren waren Umfragen und Feldforschungen, welche auf rassische Unterschiede und spezifische Charakteristika der jeweiligen Populationen abzielten, in der Bundesrepublik und zahlreichen anderen westlichen Staaten per Gesetz verboten.
Martin reichte es. Er hatte schon wieder die Nase voll von der Glotze und schlechten Nachrichten, war gerade im Begriff sie auszuschalten, da vernahm er von der Nachrichtensprecherin das folgende: „Neuseeland rückt nach rechts! Unvermutet hat die Partei ‚European Nation‘, die in vielen politischen Fragen weit rechts außen steht und in deren Parteiprogramm sich rassistische Tendenzen finden, in dem Inselstaat bei den gestrigen Wahlen die absolute Mehrheit erlangen können. Die Augen fast aller Staatsoberhäupter der Weltgemeinschaft sind nunmehr mit Fassungslosigkeit auf Neuseeland gerichtet und auf die Schritte, welche von dem Parteichef Gordon McAllister und seinem neugebildeten Kabinett unternommen werden.“
Martins Augen leuchteten auf. Er war glücklich darüber, den Fernsehapparat noch nicht ausgeschaltet zu haben, denn hier war nun wirklich mal eine gute Nachricht, eine frohe Botschaft, vom anderen Ende der Welt zu vernehmen. Die Nachrichtensprecherin – wenn sie überhaupt als Frau bezeichnet werden konnte,
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