Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
denn sie hatte vor ihrer unlängst erfolgten Operation noch Joachim geheißen, weshalb Herr Bühler meist nur von „es“ sprach – schwadronierte noch über mögliche Sanktionen gegen Neuseeland, wie etwa einem Handelsembargo, das nach inoffiziellen Verlautbarungen einiger Regierungschefs bereits eifrig diskutiert wurde. Er wußte, daß in Zukunft solche oder ähnliche Schritte eingeleitet und dabei sämtliche Register gezogen werden würden. Vielleicht würde man selbst vor einem Krieg nicht zurückschrecken? Dabei war diese neuseeländische Regierung demokratisch gewählt worden, und es bestand überhaupt kein Zweifel an dem Umstand, daß sie auf den Willen der Mehrheit hin, allein durch den Willen des Volkes, zur Macht gelangt war. Martin Bühler hoffte ungemein, sie werde sich halten können, auch wenn es schwer werden würde. Denn wenn alles krank, schwach, nichtswürdig und verdorben ist, dachte er, und eine kleine Insel von Menschen bildet sich, die vor Gesundheit und Stärke strotzt, ein Paradies, wenn man so möchte, dann vereinigen sich all die Negativseelen dieser Welt, um jene Insel zu zerstören, welche ihnen ein Dorn im Auge ist, da sie ihnen immerzu ihre eigene Unzulänglichkeit vor Augen führt – alleine durch ihr gutes Beispiel.
Als er später noch an der Ausarbeitung der Grabrede und den zu erledigenden Formalitäten für die Beerdigung seiner Tochter saß, keimte ein Gedanke in ihm auf, welcher sich nach und nach zu einem Vorhaben verfestigte, der Gedanke nämlich, mit seiner Familie, genauer: seiner Frau und seinem Sohn, nach Neuseeland überzusiedeln.
Tags darauf brachte er das Thema beim gemeinsamen Frühstück zur Sprache. Der Funke sprang, was seinen Sohn betrifft, sogleich über, denn Erik war im Augenblick Feuer und Flamme für das Unternehmen. Seine Frau zu überzeugen, erforderte da schon mehr Beredsamkeit. Doch auch dies gelang ihm. Glücklicherweise, denn er war sich der Sache so sicher gewesen, daß er weite Teile der Grabrede in diesem Sinne umgeschrieben hatte, um Freunde und Bekannte für Neuseeland zu gewinnen.
Die Trauergemeinde, im ganzen etwa fünfundzwanzig Personen, hatte sich auf dem Nieferner Friedhof zusammengefunden, um dem Mädchen, das ein so trauriges Ende hatte finden sollen, die letzte Ehre zu erweisen. Dieser 13. Mai war ein herrlicher Frühlingstag und stand so ganz im Kontrast zu dem Anlaß ihres Zusammentreffens. Es waren Trauergäste von weither angereist, so etwa Jörg Nolte aus Bremerhaven, der Onkel Luise Bühlers, oder Klaus Brommel, der ein alter Schulfreund Martins war und in Leipzig wohnte. Der Sarg aus Eichenholz befand sich geöffnet in der Aussegnungshalle, so daß jeder der Anwesenden noch einmal im Stillen Abschied nehmen konnte, von Angesicht zu Angesicht, dann wurde der Sarkophag verschlossen und von vier jungen Burschen, darunter Erik, zu jener Stelle des Friedhofes getragen, welche als letzte Ruhestätte für Lucretia-Amalia vorgesehen war – ein schattiges Plätzchen unter den weit ausladenden Ästen eines Roßkastanienbaums. Dort wurde sie neben dem ausgehobenen Loch aufgebahrt. Ihre nahen Freunde und Angehörigen stellten sich im Halbkreis darum auf.
Martin Bühler begann seine Grabrede: „Ich bin tief bewegt, daß ihr alle, die treusten Freunde und nächsten Verwandten, heute hierhergekommen seid, um mit uns das Andenken unserer lieben Tochter zu ehren und ihren Verlust zu betrauern. Sie, die von uns allen sicher die Lebensfroheste gewesen ist, ein Sonnenschein, wo immer sie wirkte, wurde plötzlich aus unserer Mitte gerissen. Lucretia-Amalia warf sich vor einen Zug, nachdem sie von einer Gruppe Migranten auf offener Straße geschändet worden war.
Es hat Zeiten gegeben, da wurden Selbstmörder nicht auf christlichen Friedhöfen bestattet, allein es sei das folgende zwischen uns Anwesenden ausgesprochen: Ein Freitod aus Motiven, wie ihn meine Tochter wählte, ist weit bewundernswerter, weit ehrenvoller, weit erhabener als ein Tod am Kreuz, wie ihn Jesus Christus nach seiner Verhaftung starb. Vorher hatte dieser ja noch seinen himmlischen Vater angebettelt, er möge den bitteren Kelch an ihm vorübergehen lassen. Lucretia-Amalie entschloß sich aus freien Stücken – und sie hatte kein Publikum zu erwarten, keine Jünger, die sie für eine Märtyrerin halten würden, wiewohl sie eine gewesen ist, wenn man ihren Tod als Zeichen wertet, das sie setzen wollte.
Sie hatte an diesem Abend einen Auftritt mit ihrem Orchester gehabt,
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