Das Kreuz des Südens - Exodus aus Europa. Ein Zukunftsroman
Iain. „Wann soll denn die Reise von Plymouth aus losgehen? Und wie viele Plätze, sagten Sie, wären noch frei? “
„Soweit ich auf dem neusten Stand bin, soll morgen abend alles über die Bühne gehen. Gestern waren es noch neun Plätze, aber zwei oder drei Personen mehr werden sicherlich noch unterzubringen sein. Der Reeder hat, wie ich hörte, viele der Cargo-Container zu Wohncontainern umbauen lassen.“
„Morgen abend“, brummte Iain nachdenklich. „Wie gedachten Sie, dorthin zu gelangen? Mit dem Zug?“
„Nun ja, ich wäre sofort mit der Bahn losgefahren zu meiner Freundin nach Plymouth.“
„Sparen Sie sich den Fahrschein, wir nehmen Sie mit.“
„Aber wir haben doch unser Auto verkauft, Iain!“ warf seine Lebensgefährtin ein. „Wir mieten uns einfach einen Wagen, das sollte nicht das Problem sein“, entgegnete MacGregor.
„Und wie kommt der Wagen wieder nach Glasgow, wenn wir ins Schiff steigen?“ wollte sie von ihrem Freund wissen.
„In diesem Fall heiligt der Zweck die Mittel, Schatz“, fuhr ihr die Antwort in Mark und Bein, aber sie widersprach nicht: sie war’s zufrieden, ließ es als Notlage gelten.
Gesagt – getan: Iain mietete noch am Flughafen einen geräumigen Mercedes, und los ging es mit Mrs. Sheffield auf der Rückbank und mit dem Ziel Südengland. Die alte Dame war, wie sich auf der langen Fahrt herausstellte, sehr geschwätzig, was Iain umso lästiger fiel, als seine Frau bald eingeschlafen war und er also das Gespräch alleine mit ihr zu führen hatte. Sie sprach ihn selbstverständlich auch auf seine bauschigen Koteletten an, die sie, wer hätte das gedacht, für unzeitgemäß hielt. Hier nun war es nicht genug, zu entgegnen, daß er selbst als ganze Person völlig unzeitgemäß und gewissermaßen ein lebender Anachronismus sei, wenn man sich so ausdrücken wollte, sondern er mußte ihr gründlich Rede und Antwort stehen.
„Was meinen Sie, wenn Sie sagen, Sie sind unzeitgemäß, Mr. MacGregor?“ hakte sie nach. „Nun ja, wissen Sie: ich interessiere mich beispielsweise für die Geschichtsschreiber der griechisch-römischen Antike, für die Werke des Livius, Tacitus oder Plutarch. Auch lese ich gerne Sueton, Lukrez oder Dichter wie Homer, Ovid, Vergil und Horaz. Zeitgemäßer wären aber doch obszöne Romane wie ‚Auf meinem Badezimmerthron‘, in dem es vorwiegend um Stuhlgang geht, oder dieses Buch ‚Feuchtgebiete‘, das mittlerweile wieder die Bestsellerlisten anführt und in der Generation der jungen Erwachsenen zum Klassiker avanciert ist. Vielleicht auch die Biographien irgendwelcher Gangster und Rapper, die ihr verkorkstes Leben vermarkten möchten – und die wir dabei unterstützen.“
„Aber Sie sind doch Arzt von Beruf, nicht Historiker oder Literaturkritiker. Sollten Sie nicht lieber medizinische Fachzeitschriften lesen?“
„Zum Glück kann ich noch selbst über meine Freizeit verfügen, was nicht ausschließt, daß ich hin und wieder auch Fachliteratur lese. In der Antike gab es aber auch Ärzte, die uns etwas zu sagen hatten – und noch heute zu sagen haben: so etwa den Hippokrates, der 400 Jahre vor dem gekreuzigten Zimmermann auf Erden wandelte. Einer seiner Grundsätze besagte: ‚Was die Medizin nicht heilt, heilt das Eisen; was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer.‘ Wenn man den Satz in übertragener Bedeutung anwendet, wie Schiller es bei seinen ‚Räubern‘ getan hat, dann paßt dieser Spruch auch auf unsere hiesige Situation: Europas Städte mußten erst brennen, die alte Welt mußte erst in Flammen aufgehen, bis wir uns dazu entschließen konnten, in Neuseeland einen neuen Anfang zu wagen.“
„Sie haben ihren Beruf verfehlt. Sie hätten Philosoph werden sollen, Mr. MacGregor.“
„Dieser Ansicht bin ich nicht, Mrs. Sheffield. Gewiß bedarf es während der Überfahrt oder an dem Ort, an dem wir landen werden, dringender eines Arztes als eines Philosophen, glauben Sie nicht auch?“
„Da mögen Sie Recht haben.“
Das Gespräch dauerte fort, bis Iain bloß noch einsilbig antwortete und Mrs. Sheffield schließlich verstummte. Doch war dies erst in den Morgenstunden des nächsten Tages der Fall…
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„Ich sag’s euch: das war ein Spaß! Ich hab mich in dem halben Jahr nicht einmal selbst rasiert. Die Mädels haben mich ja bald jeden Tag auf ihre Rechnung zum Friseur geschickt!“ Holger Krug, der Chief, erzählte wiedermal eine seiner Lieblingsgeschichten in der Kaffeepause, und vom jüngsten Öler
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