Das kritische Finanzlexikon
vorgesehen. Und die Fragwürdigkeit der Verfahren tut ihr Übriges. Bestehende Verhältnisse werden zementiert, und letztendlich trifft – im Sinne einer self fulfilling prophecy – das ein, was man mittels Rating beziehungsweise Scoring vorhersah: Der »schwache« Kreditnehmer muss aufgrund hoher Zinsbelastungen noch stärkere Einkommens- beziehungsweise Vermögenseinbußen hinnehmen und wird auf diese Weise weiter geschwächt. Für ganze Staaten ist dies genauso verhängnisvoll wie für Personen.
Renditejäger
Der klassische Renditejäger kennt nur ein Ziel: Die hoch rentable Platzierung von Kapitalvermögen. Zur Verwirklichung diese Ziels springt er auf jeden Finanzinnovationszug, der des Weges kommt.
Renditejäger sind das finanzwirtschaftliche Pendant zum güterwirtschaftlichen Schnäppchenjäger. Ein Schnäppchenjäger kämmt Tag für Tag, Woche für Woche und Jahr für Jahr alle Werbeprospekte durch, die ihm in die Hände fallen. Er tummelt sich regelmäßig auf Preisvergleich-Webseiten und kennt Rabatt- und Bonussysteme in aller Welt. Auch sein Handeln hat nur ein Ziel: die Realisierung des günstigsten Preises bei einer geplanten Anschaffung.
Aber beide müssen sich über das gesamtgesellschaftliche Handeln ihres Tuns im Klaren sein. So wie der Schnäppchenjäger eine Mitverantwortung für Lohnverfall, prekäre Arbeitsverhältnisse und Qualitätsskandale wie Gammelfleisch oder Kakerlaken im Brotteig trägt, ist der Renditejäger ein Handlanger jener Volksverarschung-Investmentbank-Geldmaschinerie, die uns angeblich tolle (weil hochverzinsliche), in Wahrheit jedoch häufig mit unangenehmen Nebenwirkungen ausgestattete »Finanzinnovationen« andreht.
Darum muss es gelingen, die gravierenden Strukturprobleme des Bankensektors, nämlich mangelhafte Eigenkapitalausstattung (vgl. → Eigenkapital und seine Rendite ) und zu laxe Regulierung (vgl. → Der Trick mit der Deregulierung ), zu lösen. Durch das Schielen auf möglichst hohe Kapitalerträge funktioniert das nicht. Im Gegenteil – die Probleme verschärfen sich noch, weil Renditejäger die Finanzinstitute noch mehr unter Druck setzen und dazu nötigen, eine immer größer werdende Vielfalt an überkomplexen Anlageinstrumenten zu kreieren.
Wie wäre es mit einer größeren Genügsamkeit? Schauen wir uns die Entwicklung von Zinsen (Zinsen für Festgelder mit einer Laufzeit von 3 Monaten, gestrichelte Linie) und Preisindex (durchgezogene Linie) näher an.
Bis zum Jahr 2010 konnte man positive Realzinsen erwirtschaften. Dann kamen die Finanzkrise 2007 und die sogenannte Euro- und Staatsschuldenkrise. Die Politik der Notenbanken als Reaktion auf diese Krisen hat endgültig zu einer überbordenden Liquiditätsversorgung des Bankensystems gesorgt, und bei wieder anziehenden Preisen gibt es für Geldanleger neuerdings real einen Kaufkraftverlust. Das ist nicht schön, aber es ist nun mal so. Denn der Zins ist der Preis für Geld. Und Geld gibt es – gesamtwirtschaftlich gesehen – in Hülle und Fülle. Es fließt nur in die falschen Kanäle und sorgt regelmäßig für → Blasen an den Spekulationsmärkten. Wer also mit einer realen Null- oder gar Minusverzinsung nicht einverstanden ist, sollte sich überlegen, ob er eine Renditejagd um jeden Preis fortführen oder unter Einkalkulierung realer Kapitalverluste lieber auf Nummer sicher gehen sollte. Oder er soll konsumieren. Auf jeden Fall ist es verkehrt, blindlings auf das Geschick sogenannter Anlageprofis zu setzen, die eine Rendite von 5, 6 oder 7 Prozent pro Jahr versprechen. Denn wie wir im Abschnitt → abartige Entwicklung gesehen haben, sind Vermögenszuwächse überwiegend virtuell-spekulativer Natur. Das Geld kann schneller weg sein, als es uns lieb ist.
Viel wichtiger ist es, die Fehlsteuerungen des Finanzsystems zu korrigieren.
Rettungsschirm (mit oder ohne: Bankenunion, EU-Bankenaufsicht, Banklizenz, Hebel …?)
Im Laufe des Jahres 2010 begann das, was allgemein als »Euro- und Staatsschuldenkrise« bezeichnet wird. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um eine weitere Variante des Phänomens »Finanzkrise« (vgl. auch → Griechenland und Island ). Mit 1 600 Milliarden Euro haben EU-Staaten ihre Banken seit 2008 mittels direkter Finanzhilfen und Garantien unterstützt. Das entspricht 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (→ BIP ) der EU. Der Begriff »Euro- und Staatsschuldenkrise« ist irreführend – er lenkt den Blick hin zu den Eurostaaten und unterschlägt einen bedeutenden
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