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Das kritische Finanzlexikon

Das kritische Finanzlexikon

Titel: Das kritische Finanzlexikon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Wierichs
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erwähnte Rating funktioniert ganz ähnlich. Es wird für bedeutende Unternehmen und auch für Staaten ermittelt. Die Rolle des großen Zampanos übernimmt hier nicht die Schufa. Obwohl es weltweit über 100 Ratingagenturen gibt, haben de facto drei von ihnen mit einem Gesamt-Marktanteil von 95 Prozent das Sagen: Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch. Alle drei haben ihren Sitz in New York; Fitch ist zusätzlich noch in London ansässig. Ein weiterer Beweis für die Dominanz der USA und Großbritanniens im spekulativen Finanzsektor.
    Das Verfahren ist beim Rating natürlich komplexer als beim Scoring. Hier geht es nicht um einzelne Privatpersonen, sondern um weltweit agierende Unternehmen und ganze Nationen. Im Zusammenhang mit einem Rating werden Bilanzkennzahlen und Faktoren wie Managementqualität oder Unternehmensstrategie, aber auch Kundenbeziehungen und Branchenentwicklungen analysiert. Bei Staaten stehen wirtschaftliche Kerngrößen wie Bruttoinlandsprodukt (→ BIP ) und Merkmale, wie sie zum Beispiel im Vertrag von → Maastricht festgelegt wurden, im Mittelpunkt. Ergebnis der Verfahren ist eine Skala, die von A bis C reicht. Die ersten vier A-Stufen stehen für eine sehr gute Kreditwürdigkeit, es folgen drei A- und drei B-Stufen, die das Prädikat »gut« bis »mittel« tragen, die unteren B- stehen für »spekulativ«, die C-Stufen für »hochspekulativ« – das sind die sogenannten → junk bonds .
    Es gibt eine Fülle von Aspekten, die die Fragwürdigkeit des Vorgehens und der Ergebnisse der Ratingagenturen verdeutlichen. Zunächst einmal muss man über die große Machtmacht der drei Marktführer stolpern. Dann das Prinzip: Mathematisch verquirlte Daten werden einem wahrscheinlichkeitsbasierten Vergangenheitswerte-Zukunftsmechanismus unterzogen. Wie unseriös solche Urteile sind, haben wir bereits im Abschnitt → Finanzanalysten gesehen. Hinzu kommen andere gewichtige Argumente, zum Beispiel die Undurchschaubarkeit der Berechnungsverfahren sowie die fragwürdigen Besitzverhältnisse. Standard & Poor’s zum Beispiel gehört zum Mediengroßkonzern McGraw-Hill. Zu dessen Eigentümern zählen wiederum einige → Hedgefonds und Finanzinstitute aus dem → Investmentbanking . Die sakrosankten Urteile über die Bonität von Anlageinstrumenten werden also gesteuert durch Personen beziehungsweise Institutionen, die sich selber wiederum im Biotop der Börsenplätze, Händler und Produktkonstrukteure tummeln.
    Die Sache stinkt zum Himmel, aber immer noch folgt man sklavisch dem Präjudiz der Ratingagenturen. Das ist nahezu unbegreiflich, erklärt sich jedoch aus der Machtposition, die sie im Laufe der letzten Jahrzehnte aufgebaut haben. Ratingagenturen sind sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft äußerst gut vernetzt. Sie haben Spitzenpolitiker bis hin zu US-Präsidenten beraten (Harold McGraw, Präsident der Muttergesellschaft von Standard & Poor’s, war zum Beispiel Berater von George W. Bush) und mithilfe solcher Schlüsselpositionen stets Einfluss auf Rechtsregeln ausgeübt, die ihrer Geschäftstätigkeit nützlich sind. Sie sind mit Finanzvorständen eng verbandelt und nehmen Einfluss auf Verhandlungen mit Schuldnern. Und so kommt keiner mehr an den »Big Three« vorbei, wenn es um Wertpapieranlagen und Kreditversorgung geht. Um nur zwei Beispiel für Rechtsvorschriften beziehungsweise Regelwerke zu nennen, von denen die Ratingagenturen profitieren: Staaten legen gesetzlich fest, dass bestimmte Anleger wie zum Beispiel Pensionskassen nur Produkte kaufen dürfen, die ein Spitzenrating erhalten; Anlageinstitutionen unterziehen sich in ihren Investmentregelungen einer Selbstverpflichtung zum Kauf von (»erstklassigen«) AAA-Produkten ( triple A ).
    Ob Rating oder Scoring – in der Neigung der Finanzwelt, eine Bewertung von Schuldnern über Instrumente der Vergangenheits-Zukunfts-Analyse durchzuführen, um auf diese Weise zu einer Festlegung von Kreditkonditionen zu gelangen, manifestiert sich ein Prinzip von Herrschaft und Unterwerfung. Dem (vorgeblich) »schwachen« Kreditnehmer werden hohe Zinsen aufgebürdet, der »starke« wird durch niedrige Zinsen belohnt. Die Branche feiert dieses System als gerecht. Schließlich geht es, im Sinne neoliberaler Weltanschauung (→ Neoliberale ), um die persönliche Verantwortung. Dem positiv gescorten/gerateten Kreditnehmer ist es doch nicht zuzumuten, dass er einen finanziell Schwachbrüstigen mit durchfüttert! So etwas wie Gemeinsinn ist nicht

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