Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kritische Finanzlexikon

Das kritische Finanzlexikon

Titel: Das kritische Finanzlexikon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Wierichs
Vom Netzwerk:
verdienen weniger als sie.
    Wir geben im Durchschnitt 11 Prozent unseres Nettoeinkommens für Lebensmittel aus – weiß das statistische Bundesamt. Bei Walter Neumann wären das 104,50 Euro, bei Philippa Kellner 676,50 Euro. Er muss also mit etwa 3,50 Euro pro Tag für seine Ernährung auskommen, sie kann etwa 22,50 Euro einsetzen.
    Für Walter Neumann ist der Durchschnittswert von 11 Prozent kaum realistisch; Ernährungswissenschaftler gehen davon aus, dass man mindestens 6 Euro investieren muss, um auf eine halbwegs vernünftige Kalorienzahl zu kommen. Demnach müsste Walter Neumann fast 20 Prozent seines Nettoeinkommens für die Deckung seines Nahrungsgrundbedarfs einsetzen.
    Bei Geringverdienern schlagen Ausgaben für die Lebenshaltung prozentual deutlich höher zu Buche. Das bedeutet gleichzeitig, dass Preiserhöhungen bei Nahrungsmitteln diese Leute besonders hart treffen. Allein im Jahr 2010 stiegen die Nahrungsmittelpreise um 30 Prozent.
    Es wird behauptet, dass die Finanzindustrie aufgrund ihres bereits seit einigen Jahren bestehenden Interesses an Nahrungsmitteln und Rohstoffen einen wesentlichen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet hat. Sollte dies zutreffen, würde die Geldbranche nicht nur auf ihrem ureigenen Sektor, sondern auch in einem zentralen Segment realwirtschaftlicher Tätigkeit für Turbulenzen und zunehmende → Ungleichheit sorgen.
    Die Finanzbranche weist den Vorwurf der Preistreiberei vehement zurück. Man konzediert zwar ein zunehmendes Volumen an Finanzkontrakten, die sich auf Nahrungsmittel und Rohstoffe beziehen, hält diese Unterstellung jedoch für einen Denkfehler. Wetten seien Nullsummenspiele – jedem Gewinner stehe ein Verlierer gegenüber, im Gesamtgefüge könne es daher aufgrund von (Derivate-)Wetten keine Preistreiberei geben.
    Investmentbanken handeln inzwischen sogar physisch mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Offenbar haben wir es hier mit einer eigentümlichen Reinkarnation des Genossenschaftsgedankens zu tun: Früher konnte man mitunter beim Besuch einer Raiffeisenbank Kartoffelsäcke und Kohlköpfe in den Bank-Geschäftsräumen oder in einem rückwärtigen Lagerraum bewundern – ein Hinweis auf die enge Verzahnung bäuerlichen und finanzwirtschaftlichen Agierens. Agrar-Absatzgenossenschaft, Volks- beziehungsweise Raiffeisenbank und Landwirt lebten in einer engen Zweckgemeinschaft.
    Moderne Investmentbanker würden solche Reminiszenzen als rührseligen Quatsch abtun. Wenn sie in Rohstoffe und Nahrungsmittel oder entsprechende → Derivate investieren, geht es um Gewinnpotenziale einer neuen Assetklasse.
    Im Report 2011 (»Die Hungermacher«) analysiert foodwatch , ein vom ehemaligen Greenpeace-Geschäftsführer Thilo Bode gegründeter gemeinnütziger Verein, die Auswirkungen des munteren Treibens der Finanzindustrie im Rohstoff- und Nahrungsmittelsektor. Das Ausmaß dieses Treibens kann man exemplarisch anhand eines einfachen Beispiels nachvollziehen – dem Anteil von Hedging und Spekulation beim Handel von Weizen an der Warenterminbörse CBOT (Chicago Board of Trade) im Zehnjahresvergleich.
    Unter »Hedging« versteht man die Absicherung von Positionen. (Der Begriff darf übrigens nicht mit den → Hedgefonds verwechselt werden.) Ein landwirtschaftlicher Erzeuger tritt zum Beispiel als hedger am Weizenmarkt auf, wenn er sich über einen future an der CBOT gegen einen fallenden Weizenpreis absichern möchte. Eine Brotfabrik wiederum kann sich auf diese Weise vor einer Preiserhöhung schützen. Beide Beteiligten gelangen so zu einer sicheren Kalkulationsgrundlage. Spekulanten interessiert das alles nicht, sie möchten mit dem future lediglich Geld verdienen.
    Im Report 2011 listet foodwatch die Situation bei Weizen an der CBOT wie folgt auf:

    Sicherungsgeschäfte sind um ca. 45 Prozentpunkte zurückgegangen, der Anteil spekulationsorientierter Geschäfte ist demgegenüber um fast 13 Prozentpunkte gestiegen. Und nicht nur das; mit den Indexfonds ist eine neue Dimension hinzugekommen, die knapp ein Drittel des Börsenvolumens auf sich vereinigt.
    Indexfonds (ETF; vgl. → Fondsanlagen ) setzen auf die Wertentwicklung eines Indexes. Der → Index wird durch die Zusammensetzung bestimmter Rohstoffe und Nahrungsmittel gebildet. Er spiegelt dann – über die vereinbarten Future-Preise – die Wertentwicklung der zugrunde liegenden Produkte wider.
    Futures haben eine vereinbarte Fälligkeit. Da Wertpapierfonds als offene Fonds ohne Zeitbegrenzung arbeiten, müssen die

Weitere Kostenlose Bücher