Das kritische Finanzlexikon
das sind nur die (relativ simplen) »Praxismethoden«. Wer es komplizierter haben möchte, ist bei den theoriebasierten Modellen besser aufgehoben und kann versuchen, den Unternehmenswert mithilfe der Expected-Utility-Theorie oder des Discounted-Cash-Flow-Verfahrens zu bestimmen.
Die Ergebnisse fallen je nach Ansatz natürlich unterschiedlich aus. Das wissen auch diejenigen, die mit diesen Modellen arbeiten, also zum Beispiel Unternehmensberater oder die coolen Leute aus dem → Investmentbanking . Die geben das auch zu. Sie bestreiten darüber hinaus auch nicht, dass es einen »objektiven« Unternehmenswert gar nicht gibt, weil die Faktoren, die in eine solche Ermittlung einfließen, schlicht und einfach zu komplex sind und weil es – noch viel wichtiger – um Zukunftsperspektiven geht. Für einen zurzeit hervorragend positionierten Betrieb mit einem Vermögen von 100 Millionen Euro würde kein Investor auch nur annähernd diese Summe bezahlen, wenn er davon überzeugt wäre, dass die Produkte dieses Unternehmens zukünftig kaum noch gefragt sein dürften und das Unternehmen aufgrund seiner Ausstattung mit Investitionsmitteln, seiner Organisationsstruktur etc. viel zu schwerfällig ist, um sich längerfristig am Markt zu behaupten.
Da die Bewertungsfrage so schwierig ist, greift man nun gerne wieder auf den schlichten Maßstab Börsenkurs zurück. Der Kurswert einer Aktie, multipliziert mit der Anzahl der von den Aktionären gehaltenen Aktien, ist dann der aktuelle value eines Unternehmens. Wenn der Börsenkurs steigt, erhöht sich der Unternehmenswert. Damit sind wir wieder beim populärsten Ansatz der Kapitalmarktfetischisten angelangt, dem → shareholder value.
Wer kritisch nachdenkt, wird jegliche Form der zukunftsorientierten Bewertung eines komplexen Gebildes (Unternehmen) in einer überkomplexen Welt mit äußerster Vorsicht und Distanz betrachten. Die → Blasen an den Börsen entstehen nun einmal durch irrationales Verhalten der Marktteilnehmer. Fälle, in denen Kurse förmlich in den Himmel steigen, um dann wieder steil nach unten zu gehen, sind zahlreich. Nicht nur in Einzelfällen, sondern auch als kollektives Event: Man denke zum Beispiel an die »Dotcom-Blase« um das Jahr 2000, als ein Börsengang im Neuen Markt schon automatisch von Erfolg gekrönt war, auch wenn das Unternehmen lediglich ein paar Hinterhofgaragen zu ihrem Vermögen zählte – Hauptsache, es machte irgendetwas mit »Computer« und »Internet«.
Wir haben in Bezug auf die Neigung, willkürliche und nach dem Mainstream ausgerichtete Unternehmensbewertungen vorzunehmen, nichts dazugelernt. Facebook wurde kurz vor seinem Börsengang im Mai 2012 mit mehr als 100 Milliarden Dollar bewertet. Mit den Gewinn- und Umsatzdaten des MegaNetzwerks zu diesem Zeitpunkt hatte dies nichts zu tun. Innerhalb weniger Tage wurde die Top-Bewertung dann nach unten korrigiert. Da waren Euphorie und Gier der Anleger und Investmentbanker offenbar doch ein wenig zu groß gewesen.
Ein Herr Ackermann sollte nicht vollmundig von »Werte schaffen« reden, wenn ein Unternehmen mal wieder ganz oben auf der Hitliste der Anleger steht und in der Kakophonie des allgemeinen vorbörslichen oder börslichen Gestammels hochgepusht wird. Ein wenig Bescheidenheit im sokratischen Sinne täte gut: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«
Wetten
Dieter M. entdeckte bereits vor der Jahrtausendwende den Reiz des Spekulierens. Aus einem Teppichhändler wurde ein Tageshändler. Seine Hausbank ermöglichte ihm den Onlinehandel von Dollar, Pfund und Yen in ganz großem Stil. Die → Devisen brauchte er nicht für sein eigentliches Metier; ihm kam es lediglich darauf an, Kursschwankungen durch den Einsatz von Devisenoptionsgeschäften und Devisenfutures (vgl. → Derivate ) optimal in seinem Sinne auszunutzen. Eigenkapital benötigte Dieter M. für seine edlen Vorhaben kaum, denn fast alles wurde auf Kreditbasis abgewickelt. Die Handelsgewinne würden, davon war er fest überzeugt, locker zur Rückzahlung von Kredit und Zinsen ausreichen.
Leider lief das Geschäft nicht ganz so, wie Dieter M. es sich erhofft hatte. Die Verluste häuften sich. Irgendwann hatte er über 720 000 D-Mark Schulden. (Damals wurde noch in unserer alten Währung getradet .) Seine zuvor noch so hilfsbereite Hausbank zog die Notbremse und forderte die Schulden ein. Vergebens.
Dieter M. hatte Glück – er konnte sich seinerzeit noch auf das gute alte Bürgerliche Gesetzbuch berufen. In § 762 BGB heißt
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