Das kritische Finanzlexikon
Vertragswerk entgegenschlug, überzuckerte man die restriktiven Sparvorschriften mit einigen wohldosierten Formulierungen, in denen die Worte »Wachstum«, »Wachstumspakt« (auch hierzu gibt es ein Vertragswerk) und »Wirtschaftswachstum« auftauchen. Aber Sparen und Haushaltsdisziplin geben zurzeit klar die Richtung vor. Und an dieser Stelle sollte man noch mal kurz auf unser Beispiel aus dem Musikantenviertel zurückkommen. Josef Keller hat eine vierköpfige Familie zu ernähren. Er macht Kurzarbeit und sein Job steht auf der Kippe. Da gibt es kein großes Sparpotenzial; hier sind Wachstumsimpulse angesagt. Wir setzen mal voraus, dass er arbeitswillig ist. Also muss man ihm Beschäftigungsmöglichkeiten – und diese zu vernünftigen Konditionen – bieten. Folglich muss es doch in Richtung aktive Arbeitsmarktpolitik gehen. Dazu benötigt man Geld. Das kann man natürlich durch die Einführung von Eurobonds beschaffen; wichtiger wäre es jedoch, die immer krasser werdende → Ungleichheit in Bezug auf Einkommen und Vermögen zu überwinden (oder zumindest stark auszubremsen), etwa durch eine stärkere Besteuerung von höheren Einkommen, von Vermögen und Erbschaften..
An Reformen zur Verbesserung der Einkommenssituation im Niedriglohnbereich und zur Schaffung von Steuergerechtigkeit trauen sich unsere neoliberal angehauchten Politiker jedoch nicht heran. Da ist es vorerst bequemer, die Europäische Zentralbank einzuschalten.
Europäische Zentralbank
Wer Gelder gegen ein Zinsversprechen einsammelt und unter Berechnung höherer Zinsen an kreditsuchende Personen oder Unternehmen weiterleitet, kann üppige Gewinne einfahren. Dabei ist es wichtig, dafür zu sorgen, dass die Zahl der möglichen Kreditausfälle minimiert wird. Wenn man dies schafft, kann man mit geringem Eigenkapitaleinsatz eine traumhafte Rendite einfahren (vgl. → Eigenkapital und seine Rendite ).
Im Grunde genommen hätten die Europäische Zentralbank (EZB) und die ihr angegliederten nationalen Zentralbanken der Euroländer, ebenso wie alle anderen Zentralbanken in der Welt, eine sehr gute Ausgangsposition, wenn sie sich auf das Kreditvergabegeschäft an Privat- und Geschäftskunden konzentrieren würde. Das tun Zentralbanken jedoch nicht. Sie haben sogenannte »währungspolitische Aufgaben«, vulgo: Sie müssen durch Regulierung der Geldmenge für Stabilität innerhalb ihres machtpolitischen Geltungsbereichs sorgen. Dafür steht ihnen ein umfangreiches geldpolitisches Instrumentarium zur Verfügung. Leider hat sich in der letzten Zeit der Akzent beim Einsatz dieses Instrumentariums verschoben. Heutzutage muss die EZB primär dafür sorgen, dass den Banken das Geld nicht ausgeht. Die Gefahr, dass dies passiert, ist im Zuge der Entwicklungen in den letzten 10 bis 15 Jahren größer denn je.
Als Refinanzierungsinstitution für das Bankensystem bietet die EZB dem Bankensystem eine breite Palette von Liquiditätshilfen an. Meist sehen diese Geschäfte so aus, dass die EZB Wertpapiere oder Kreditforderungen der Banken für eine bestimmte Zeit (meist sieben Tage oder drei Monate) beleiht. Papiere und Forderungen verbleiben in den Büchern der Kreditinstitute, diese wiederum erhalten eine Gutschrift auf ihrem Konto bei der Zentralbank ihres Landes. Dieses Geld gibt es regelmäßig; es liegt quasi ein revolvierendes System vor. Wenn ein Geschäft nach sieben Tagen oder drei Monaten fällig wird, folgt ein Anschlussgeschäft. Beispiel: Am 10.8. wird ein Geschäft im Volumen von 157 Milliarden Euro fällig, gleichzeitig kommt ein neues im Volumen von 160 Milliarden Euro zu Stande. Folglich gibt es noch 3 Milliarden zusätzliche Liquidität. Die EZB kann natürlich auf diese Weise dem Markt auch Geld entziehen (indem sie zum Beispiel beim neuen Geschäft nur 150 Milliarden zuteilt). Früher sorgte sie in der Bankenwelt für Verärgerung, wenn sie dem Sektor auf diese Weise sehr viel Geld entzog, in den letzten Jahren hat sie jedoch stets alle Liquiditätswünsche der Banken vorbehaltslos erfüllt (vgl. → Tender ). Die Banken haben jedenfalls an diesen Geschäften ihre helle Freude, denn der Zinssatz ist gegenüber anderen Refinanzierungsmöglichkeiten recht bescheiden, und alle Banken der Eurozone können in den Genuss dieser günstigen Gelder kommen. Ende 2011 und Anfang 2012 zeigte sich die EZB besonders großzügig, indem sie den Banken in der Eurozone mehr als 1 000 Milliarden Euro zum Vorzugszins von zunächst 1 Prozent, später 0,75 Prozent, seit
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