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Das Kultur-Spiel

Das Kultur-Spiel

Titel: Das Kultur-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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vermittelte den Eindruck, eine leicht verzerrte Projektion zu sein. Auch seine Kleidung sah fremdartig aus; sackförmig, grellfarben, selbst im dämmrigen Licht der Nachttischlampe. Der Mann war wie ein Clown oder ein Hofnarr gekleidet, doch sein irgendwie zu gleichmäßiges Gesicht hatte einen Ausdruck von… Grimm? Verachtung? Die… Fremdartigkeit machte eine Deutung schwierig.
    Er wollte nach seiner Brille greifen, doch es war nur der Schlaf in den Augen, der seine Sicht trübte. Die Chirurgen hatten ihm vor fünf Jahren neue Augen verpasst, doch nach sechzig Jahren Kurzsichtigkeit konnte er sich die eingefleischte Reaktion nicht abgewöhnen, bei jedem Erwachen nach seiner nicht vorhandenen Brille zu greifen. Das war ein geringer Preis, den er zu zahlen hatte, dachte er immer wieder, und jetzt, mit der Alterungsumkehrbehandlung… Der Schlaf wich aus seinen Augen. Er setzte sich auf, betrachtete den Mann auf dem Stuhl und glaubte, zu träumen oder einen Geist zu sehen.
    Der Mann sah jung aus; er hatte ein breites, gebräuntes Gesicht und schwarzes Haar, das zum Hinterkopf zurückgebunden war, doch das waren nicht die Gründe, weshalb ihm der Gedanke an Geister und Tote kam. Es lag an den dunklen, tiefgründigen Augen und den unirdischen Zügen des Gesichts.
    »Guten Abend, Ethnarch.« Die Stimme des jungen Mannes klang verhalten und gemessen. Irgendwie wirkte sie wie die Stimme einer viel älteren Person, verglichen mit der sich der Ethnarch auf einmal jung vorkam. Ein eisiger Schauder durchfuhr ihn. Er blickte sich im Raum um. Wer war dieser Mann? Wie war er hier hereingelangt? Angeblich war der Palast uneinnehmbar. Überall waren Wachposten aufgestellt. Was ging da vor sich? Die Angst kehrte zurück.
    Das Mädchen vom vergangenen Abend lag immer noch auf der anderen Seite des breiten Bettes, nur eine Erhebung unter der Decke. Ein paar ungenutzte Bildschirme an der Wand zur Linken des Ethnarchen warfen den schwachen Schein der Nachttischlampe zurück.
    Er hatte Angst, aber jetzt war er vollkommen wach, und sein Gehirn arbeitete schnell. Im Kopfbrett des Bettes war eine Pistole verborgen; der Mann am Fußende des Bettes war dem Anschein nach nicht bewaffnet. Doch die Pistole stellte eine letzte Zuflucht in höchster Verzweiflung dar. Der Stimmkode war das Richtige. Die Mikrofone und Kameras im Raum waren in Funktionsbereitschaft, und ihre automatischen Schaltsysteme warteten nur auf einen bestimmten Satz, der sie einschalten würde; manchmal wollte er hier eine ungestörte Privatsphäre, hin und wieder wollte er etwas nur für sich selbst aufzeichnen, und natürlich hatte er immer um die Möglichkeit gewusst, dass ein Unbefugter sich Zutritt verschaffen könnte, wie dicht das Sicherheitsnetz auch sein mochte.
    Er räusperte sich. »Na, das ist aber mal eine Überraschung!« Seine Stimme klang ganz ausgeglichen, ruhig.
    Er lächelte dünn, zufrieden mit sich selbst. Sein Herz – das Herz, das bis vor elf Jahren einer athletischen jungen Anarchistin gehört hatte – schlug schnell, doch nicht so schnell, dass es beunruhigend gewesen wäre. Er nickte. »Das ist wirklich eine Überraschung«, wiederholte er. Damit waren die entscheidenden Worte gefallen! Im Kontrollraum im Erdgeschoss würde bereits die Alarmanlage läuten; die Wachleute würden in ein paar Sekunden zur Tür hereingestürmt kommen. Oder vielleicht wollten sie dieses Risiko nicht eingehen und würden stattdessen die Gaszylinder in der Decke auslösen und sie beide durch eine Explosion in die Bewusstlosigkeit und einen blendenden Nebel schleudern. Das barg die Gefahr in sich, dass seine Trommelfelle platzten, dachte er und schluckte, doch er könnte sich immer wieder neue von einem gesunden Dissidenten beschaffen. Vielleicht wäre das nicht einmal nötig; Gerüchten zufolge umfasste der Prozess der Alterungsumkehr auch die Möglichkeit, dass Körperteile nachwuchsen. Nun, es war kein Schaden, wenn man ein paar Reserven hatte, wenn man auf Nummer Sicher ging. Er schätzte das Gefühl des Geschütztseins, das ihm das verlieh. »Nun«, hörte er sich selbst sagen, nur für den Fall, dass die Schaltsysteme den Kode beim ersten oder zweiten Mal nicht mitbekommen hatten, »das ist wirklich eine Überraschung.« Die Wachleute müssten jeden Augenblick hier sein…
    Der grell gekleidete junge Mann lächelte. Er krümmte den Körper auf seltsame Art und beugte sich dann vor, bis seine Ellbogen auf dem oberen Rand des geschnitzten Fußbretts des Bettes ruhten.

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