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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Nabelschnur.«
    »Was?«
    »Nabelschnur. Das ist ein Stück von Ihrer Nabelschnur, scheint mir … Glaube ich.«
    In dem Umschlag war auch ein Foto von ihr, als sie ganz jung war, mit einem Kerl mit hellen Augen auf einem Karussell, und hintendrauf hatte sie geschrieben: Germain Despuis und ich, 14. Juli 1962 .
    Das war also mein Erzeuger bei dem denkwürdigen Fest, ein oder zwei Stunden bevor er meine Mutter geschwängert hat. Scheiße, habe ich gedacht, dann hieß er also auch Germain? Letztlich hatte Margueritte also doch nicht falschgelegen …
    Bevor ich gegangen bin, wollte ich von Monsieur Olivier noch was wissen: »Sagen Sie, ich habe mich gefragt … Wenn man ein Testament schreibt und einen letzten Willen hat …«
    »Äh, ja? Womit kann ich Ihnen da behilflich sein?«
    »Die, die das Testament dann öffnen, die müssen doch machen, was man sich gewünscht hat, oder?«
    »Nein, nein, ganz und gar nicht. Das liegt vollkommen im persönlichen Ermessen. Wenn der Verstorbene einen Wunsch hinterlässt, der unmöglich zu erfüllen oder einfach gesetzes- oder sittenwidrig ist, dann ist niemand verpflichtet, seinem Desiderat blind nachzukommen.«
    »…?«
    »Verstehen Sie?«
    »Das heißt, man ist nicht gezwungen, ihm seinen letzten Willen zu erfüllen?«, fragte ich.
    »Man kann nicht dazu genötigt werden, keinesfalls! Warum diese Frage?«
    »Nur so, vergessen Sie’s.«
    Das passte mir gar nicht, von wegen dem Gefallenendenkmal und Jacques Devallée, der wieder mal recht hatte, wie immer. Aber gleichzeitig ist mir aufgefallen, dass ich meinen Namen schon eine ganze Weile nicht mehr draufschreibe.
    Ich glaube, im Grunde ist es mir egal, wenn ich nicht unauslöschlich bleibe.

 
    D er Notar hat mir den Umschlag übergeben und mir zweimal die Hand geschüttelt.
    Ich bin mit dem ganzen Kram nach Hause gegangen und habe alles auf den Tisch geworfen.
    Als Annette vorbeigekommen ist, hat sie gefragt: »Was ist denn das für Zeug?«
    »Erinnerungen von meiner Mutter.«
    Sie hat das Foto genommen und sich damit ans Fenster gestellt. »Das ist deine Mutter?«
    Ich habe ja gesagt.
    »Wie alt war sie da?«
    »Wenn man von meinem Alter ausgeht, muss sie achtzehn gewesen sein. Na ja, nicht ganz. Das war an dem Tag, wo mein Vater sie geschwängert hat. Mit mir.«
    »Sie war ja eine echte Schönheit, sag mal. Verrückt, das hätte man nie gedacht, wenn man sie in der letzten Zeit so sah … Und der Mann, das ist also dein Vater?«
    »Mh-hm«, habe ich gebrummt.
    »Hast du dieses Foto schon mal gesehen?«
    »Nee, noch nie.«
    »Das muss doch ein komisches Gefühl sein, zu wissen, wie er aussah, oder?«
    »Na ja«, habe ich gesagt.
    »Er war anscheinend ein ganzes Stück älter als deine Mutter.«
    »Ach, so viel auch wieder nicht.«
    Er war zwölf Jahre älter als sie, und er hatte sie nach dem Ball am 14. Juli gevögelt.
    Annette ist neun Jahre jünger als ich, und ich habe nach dem Ball am 1. Mai zum ersten Mal mit ihr geschlafen.
    Vielleicht habe ich von meinem Vater nicht nur die Augen …
    Annette hat meinen Kopf in beide Hände genommen und gesagt: »Zeig mal deine Augen.«
    »Pff, hör auf …«
    »Komm, zeig her! Die hast du von ihm, oder? Doch, doch, schau! Jedenfalls war er auch groß. Aber nicht so charmant wie du.«
    »Von wegen!«
    »Du bist der Schönste von allen, mein Schatz.«
    »Hör doch auf mit dem Blech«, habe ich gesagt und dabei gelacht.
    »Du weißt doch, wie du mich zum Schweigen bringen kannst, oder?«, hat sie mit einem Augenzwinkern gefragt, bevor sie anfing, mich zu küssen, wie nur sie es kann.
    Es ist verrückt, die Frau fühlt sich an, als hätte sie keine Knochen im Leib. Man kann sie drücken, wie man will, ihr Körper gibt überall nach.
    Wie ein Federbett, aber als Frau.
    Später hat sie mich gefragt: »Was willst du denn mit diesen ganzen Erinnerungen machen?«
    Ich hatte keine Ahnung. Das war noch so eine bescheuerte Idee von meiner Mutter, mir ihre Lumpen zu hinterlassen. Aus lauter Gemeinheit. Ich kenne sie nämlich: Dieses Luder wusste genau, dass es nicht meine Art ist, Nabelschnüre oder Fotos von meinem unbekannten Vater wegzuschmeißen – vor allem, wenn es nur ein einziges gibt.
    Annette hat vorgeschlagen: »Weißt du was? Du brauchst alles nur in eine hübsche Schachtel zu legen, und das war’s.«
    »Und die Schachtel, was mache ich dann mit der? Auf den Fernseher stellen?«
    »Du vergräbst sie.«
    Da meine natürlichen und rechtmäßigen Erzeuger auch schon beide

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