Das Labyrinth der Zeit
kleidete sich an.
Er hatte damit gerechnet, dass es sich seltsam anfühlen würde, in diesem Körper umherzugehen, aber dem war nicht so – es war derselbe unbewusste Vorgang wie immer.
In der Küche nahm er leise den Autoschlüssel seines Vaters vom Wandhaken und steckte ihn ein, damit er nicht klirrte. Dann öffnete er die Besteckschublade und schob den Plastikeinsatz mit den verschiedenen Fächern beiseite, um an den Umschlag zu gelangen, der seine ganze Kindheit hindurch hier unter dem Besteck aufbewahrt worden war. In dem Umschlag befand sich ein Bündel Zehn- und Zwanzig-Dollar-Scheine, gut einen halben Zentimeter dick. Er nahm das gesamte Geld an sich, kehrte dann in sein Zimmer zurück und schob leise das Fenster auf.
Das Auto war ein Chevrolet Impala, Baujahr 1971, kackbraun und bereits mit etlichen Roststellen an den Kotflügeln. Eben diesen Wagen hatte Travis selbst oft gefahren – noch 1984 war er ganz gut in Schuss gewesen. Er war auf der Straße geparkt, denn eine Garage hatten sie damals nicht. Travis stieg ein, rückte den Sitz bis ganz nach vorn und konnte das Gaspedal mühelos mit dem Fuß erreichen.
Er fuhr beim nächsten Supermarkt vorbei, um alles einzukaufen, was er für seine Reise benötigte. Proviant zum einen: Brot, Chips, Kekse, Salzkräcker, Erdnussbutter, ein Zwölfer-Pack Pepsi, alles rührend antiquiert wirkend in den altertümlichen Verpackungen. Einen Schlauch aus durchsichtigem Plastik sowie einen Zwanzig-Liter-Kanister mit einer Ausgusstülle zum anderen, die er in der Abteilung für Heimwerkerbedarf ausfindig machte. Nachdem er noch einen Drahtkleiderbügel und einen stabilen Schraubenzieher aufgetrieben hatte, machte er sich auf den Weg zur Kasse.
Die junge Kassiererin musterte ihn stirnrunzelnd, als er mit seinem Einkaufswagen allein bei ihr auftauchte.
Er deutete mit dem Kopf hinaus zum Parkplatz. «Meine Mutter ist im Auto sitzen geblieben. Weil ihr die Füße so weh tun.»
Das Mädchen zuckte die Achseln und fing an, die Preise von Hand einzutippen.
Er klapperte systematisch die Parkplätze vor Nachtclubs ab, bis er auf dem vierten Parkplatz endlich fand, wonach er gesucht hatte: einen Chevrolet Chevelle, vielleicht fünf Jahre alt, limettengrün, mit einem weißen Rallyestreifen in der Mitte.
Und mit sehr dunkel getönten Scheiben, eingeschlossen die Windschutzscheibe.
Es dauerte eine halbe Minute, bis er mit Hilfe des Kleiderbügels das Türschloss geknackt hatte. Ebenso rasch hatte er mit dem Schraubenzieher das Zündschloss aufgebrochen und den Motor durch Kurzschließen der Zündkabel gestartet. Zehn Minuten später befand er sich bereits auf der Interstate 94 in Richtung Osten, sorgsam darauf bedacht, nicht schneller als 90 km/h zu fahren, während durch die offenen Fenster die Nachtluft hereinrauschte.
15
Es war wirklich ein Grand Canyon, der den gesamten Straßenabschnitt unpassierbar machte, genau wie von Bethany vorhergesagt. Die Baugrube war drei Stockwerke tief und erstreckte sich von einer Grundmauer zur anderen: zwischen dem Krankenhaus auf der Südseite und einer nahtlosen Reihe von Verwaltungs- und Forschungsgebäuden auf der Nordseite. Links und rechts des gähnenden Abgrunds waren Betonbarrieren mit grell orange leuchtenden Warnschildern errichtet, um nachdrücklich auf das Bauloch hinzuweisen.
Für den Durchgangsverkehr zwischen den beiden Querstraßen, dem Broadway im Osten und der Wolfe Street im Westen, war die Monument Street komplett abgesperrt. Es waren also nur Fußgänger auf der Straße unterwegs, Leute, die aus dem Krankenhaus und den Gebäuden gegenüber kamen oder dorthin unterwegs waren.
Wodurch es problematisch werden könnte, allein auf der Straße herumzustehen, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen, besonders für einen zehnjährigen Jungen. Und ganz besonders bei Einbruch der Dunkelheit.
Es war sechs Uhr am frühen Sonntagabend. Die Luft war frisch, und das Licht der schrägstehenden Sonne fiel durch die Bäume am Straßenrand. Travis saß auf einer Bank ganz in der Nähe der Kreuzung von Broadway und Monument Street, weit westlich der Baustelle. Von hier aus konnte er die beiden nächstgelegenen Krankenhauseingänge sehen, aber nicht die beiden anderen. Dazu hätte er sich sechzig Meter dichter bei der Baustelle aufhalten und auch noch stehen müssen, denn weitere Bänke gab es nicht auf der Straße.
Und obwohl er erst seit zehn Minuten hier auf der Bank saß, mit einem Comicheft auf den Knien, hatte er bereits erste
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