Das Labyrinth der Zeit
Wohl kaum. Befremdlich anmutendes Verhalten wie dieses schreckte andere Leute eher ab; es verhieß Scherereien, und Scherereien gingen die meisten lieber aus dem Weg.
Einem Zehnjährigen aber stand keine dieser Möglichkeiten offen.
Verdammt.
Er blätterte eine weitere Seite in dem Comic um. Ließ seinen Blick über die Bilder und Texte schweifen, ohne etwas von dem Inhalt wahrzunehmen.
Da fiel ein Schatten auf seinen Schoß.
«Entschuldigung.»
Travis sah auf. Vor ihm stand eine Frau um die dreißig mit einem etwa fünfjährigen Mädchen im Schlepptau. Das Mädchen starrte Travis mit großen Augen an, während es sich scheu hinter dem Bein seiner Mutter zu verbergen suchte.
«Brauchst du Hilfe?», fragte die Frau.
Travis setzte rasch ein Lächeln auf und schüttelte den Kopf. «Nein, danke. Mir fehlt nichts.»
Das war ein weiterer Trick, wenn er schon nicht in Bewegung bleiben konnte: sehr direktes, selbstbewusstes Auftreten. Darauf zu achten, dass weder seine Worte noch sein Tonfall irgendwie unsicher klangen.
Er senkte den Blick wieder auf sein Comic-Heft und beachtete die Frau nicht weiter.
Der Schatten rührte sich nicht vom Fleck.
«Ich warte jetzt schon länger auf den Bus, und mir ist aufgefallen, dass du die ganze Zeit mutterseelenallein hier herumsitzt», ließ die Frau sich nicht beirren. «Falls du irgendwen anrufen musst, ich habe Kleingeld. Und wenn du möchtest, können wir hier zusammen warten, bis –»
«Ist nicht nötig, wirklich», wehrte Travis ab, während er sie erneut ansah. «Mein Vater holt mich hier immer um Punkt Viertel nach sechs ab. Ist ein sicherer Treffpunkt, sagt er, weil hier immer massenhaft Leute unterwegs sind. Ich bin bloß früh dran heute, mehr nicht.»
Die Frau runzelte die Stirn. Sah aus, als wollte sie trotzdem bei ihm warten, und sei es nur, um mit seinem Vater ein Wörtchen über diese Regelung zu wechseln.
«Ernsthaft», bekräftigte Travis, «verpassen Sie meinetwegen nicht Ihren Bus. Das würde mir furchtbar leidtun.»
Erneutes Stirnrunzeln. Die Frau öffnete den Mund, als wollte sie noch etwas sagen, kam aber nicht dazu. Weil das kleine Mädchen ungeduldig an ihrer Hand zog und mit seinem ganzen Körper zum Broadway zurückdrängte.
Die Frau stieß unzufrieden die Luft aus. «Das gefällt mir nicht», sagte sie, ehe sie sich umwandte und wieder zu den anderen Leuten zurückkehrte, die an der Bushaltestelle vorne an der Kreuzung warteten.
Zwei Minuten darauf traf der Bus ein, und sobald er weitergefahren war, stand Travis von der Bank auf und schob sich das Comicheft in die Jackentasche. Kurz stand er da und ließ sich die Situation durch den Kopf gehen. Ehe Ward aus dem Krankenhaus gewankt kam, konnten noch bis zu neun Stunden vergehen, und dies, wo es für Travis, realistisch betrachtet, bereits annähernd unlösbare Probleme aufwarf, auch nur die nächste halbe Stunde lang ungehindert hier Wache zu stehen.
Er schlenderte auf die Baustelle zu. Dort wurde nach wie vor gearbeitet, wie an den Zurufen der Arbeiter und dem Rattern druckluftgetriebener Werkzeuge unschwer zu erkennen war, die aus der Baugrube jenseits der hüfthohen Betonbarriere zu ihm nach oben drangen. Dazu plärrte ein Hi-Fi-Radiorekorder, aus dem soeben lautstark «Hollywood Nights» von Bob Seger erklang. Der helle Schein starker Baustellenlampen drang aus der Grube bis hinauf nach oben an die Innenseite der Betonbarriere, teils überlagert vom schwächer werdenden Licht der untergehenden Sonne.
Der einzige Plan, den Travis in Ermangelung eines Müllcontainers versuchsweise angedacht hatte, bestand darin, irgendwo auf der Baustelle selbst zu warten. Über die Barriere zu klettern und sich am Rand der Grube zu postieren, in der Hoffnung, dort irgendwelches Material zu finden, hinter dem er sich verbergen konnte. Drei oder vier Holzbretter hätten womöglich schon genügt – er hätte sie unordentlich gegen eine Grundmauer auf der Nordseite der Straße lehnen und sich dahinterstellen können. Im Dunkeln hätte ihn hinter den Brettern wohl kaum jemand sehen können, und vielleicht hätte er sie sogar so anordnen können, dass er von seinem Standort aus alle vier Ausgänge zugleich im Auge behalten konnte.
Von Brettern oder sonst etwas Brauchbarem aber war weit und breit nichts zu sehen. Wobei diese Lösung ja ohnehin nicht in Betracht kam, da unten in der Grube nach wie vor gearbeitet wurde.
Etwa fünfzehn Meter vor der Betonbarriere blieb Travis stehen. «Hollywood Nights» ging
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